Kalter Mond
Leiche, das Hirn eines Mörders, ein Blitzstrahl – der verrückte Wissenschaftler legt einen Schalter um, in tote Adern kommt plötzlich Leben, und das Böse treibt sein Unwesen auf Erden. Der Fall Red Bear ist prosaischer.
Lange bevor Red Bear Red Bear war, hieß er Raymond Beltran, Sohn einer Teenager-Prostituierten namens Gloria Beltran, die in der großen Emigrationswelle von 1980 mit anderen, im eigenen Land missliebigen Kubanern in die USA verschifft wurde. Klein Raymond war damals acht Jahre alt, und war schon sein Leben in Havanna ungewiss gewesen, so war das nichts im Vergleich zu der Odyssee, die vor ihm lag.
Glorias erste Station war Miami, zusammen mit den weit über hunderttausend Kubanern in diesem Exodus. Sie zog zu einem Cousin, der sie rauswarf, als er nach Hause kam und Gloria dabei erwischte, wie sie ihr Gewerbe auf der Wohnzimmercouch ausübte, Klein Raymond keine drei Meter entfernt im Nebenzimmer. Ihre nächste Station führte sie zu einem Onkel, einem wesentlich älteren und offenbar viel toleranteren Mann. Unglücklicherweise musste sie aus grundsätzlichen Erwägungen heraus weiterziehen, als der Onkel darauf bestand, dass sie ihre Miete in Naturalien bezahlte. Die Liste der folgenden Adressen war lang: zwei Wochen hier, drei Monate dort, jede Kellerwohnung schlimmer als die letzte.
Als sie zu Inigo Martinez zogen, einem Drogendealer, der, vom mörderischen Konkurrenzkampf in Miami zermürbt, sein Augenmerk auf den grenzenlosen Markt von Kanada richtete, kehrte für Gloria und Raymond so etwas wie eine Verschnaufpause ein. Und so kam es, dass Raymond Beltran in einer Sozialwohnung in einem Komplex namens Regent Park aufwuchs, im Osten des Zentrums von Toronto.
Jedes Mal, wenn die Regierung eine Volkszählung veranstaltet, erweist sich Regent Park als das ärmste Viertel in Toronto. Die meisten Bewohner sind erst vor kurzem eingewandert und versuchen, ihren Träumen ein winziges Stück näher zu kommen. Viele sind alleinerziehende Eltern, die von der Wohlfahrt leben; fast alle achten das Gesetz. Nicht so Inigo Martinez. Er war auch kein erfolgreicher Geschäftsmann, denn seine Vorstellung von Kanada als einem grenzenlosen Markt für Drogen erwies sich als ein Irrtum. Ein solch fataler Irrtum, genauer gesagt, dass ein verärgerter Konkurrent ihn eines Tages vom Dach eines Hochhauses an der Eastside werfen ließ.
Gloria konnte die Ausweisung verhindern, indem sie einen Kanadier kubanischer Herkunft dazu brachte, sie zu heiraten. Gegen ein bescheidenes Entgelt war er bereit, zu einer Reihe Einwanderungsbefragungen zu erscheinen, sich auf ihrer »Hochzeitsreise« fotografieren zu lassen und dergleichen mehr. Nachdem ihr Familienstand gesichert war, versuchte Gloria, ihn zu Kindergeldzahlungen zu zwingen, doch er verschwand aus ihrem Leben, wie es Leute, die bei Sinnen waren, schon immer getan hatten.
So blieb ihr nichts weiter übrig, als Raymond mit der Stütze, die sie vom Sozialamt bekam, sowie den Einkünften aus ihrem alten, liegenden Gewerbe großzuziehen. Natürlich beschwerten sich die Nachbarn, und die Polizei schaute regelmäßig vorbei. Das Katholische Kinderhilfswerk zerrte sie regelmäßig wegen Kindesvernachlässigung vor das Provinzgericht in der Jarvis Street. Nachdem sie selber das letzte Mal mit vierzehn auf einer Schulbank gesessen hatte, sah Gloria keinen Grund, wieso das bei ihrem Sohn anders sein sollte; sie hatte ihn lieber bei sich in der Wohnung.
Neben dem Einfluss seiner Mutter war die andere prägende Kraft in Raymond Beltrans Jugend – der Blitzstrahl, dermit einem Schlag das latente Mörderhirn zum Leben erweckte – die Hexerei.
Hexerei, oder genauer gesagt
brujería
, begegnete Raymond in der Gestalt von Victor Vega, einem Landsmann aus Kuba, der dem Jungen ungefähr hundert Jahre alt schien. Vega war hager, knorrig und gebeugt. Er zog ein Bein nach, Hinterlassenschaft eines Autounfalls vor langer Zeit. Sein braunes Gesicht war wie eine Karikatur aus Brauen und Wangenkno-chen. Alles in allem ein wenig anziehendes Äußeres für einen Mann, der allen, die wussten, was er war, Respekt, ja Furcht einflößte.
Vega war Medizinmann, ein
patrón
des Palo Mayombe – einer Religion, die den bekannteren Voodoo und Santeria ähnlich ist, afrikanischen Glaubenssystemen, deren Götter sich als christliche Heilige tarnen. Wie seine beiden Schwesterreligionen befasst Palo Mayombe sich mit Magie, doch in den Händen von Victor Vega war es Magie der schwärzesten
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