Kalter Mond
dir.«
»Kevin sollte es besser nicht erfahren. Er und seine Schwester standen sich nahe.«
»Er kommt drüber weg. Wie hat er auf Toof reagiert?«
»Hatte Angst. Genau wie ich das erste Mal.«
»Ich werd ihn beruhigen. Aber jetzt will ich, dass du still liegst. Ich hab noch eine kleine Belohnung für dich.«
Red Bear stand auf und zog seinen Sweater aus. Er war muskulös, wenn auch kaum größer als Leon. An seinem Rücken bildeten zwei lange Narben von den Schultern bis zum Steißbein ein V.
»Wie bist du an diese Narben gekommen?«, fragte Leon. »Sieht nicht nach einem Unfall aus.«
»Das spielt jetzt keine Rolle.«
»Ich hab dir auch von meinen erzählt.«
Red Bear lächelte und trat aus seiner Tunnelzughose. »Vielleicht erzähl ich dir mal davon, aber jetzt haben wir was anderes vor.«
Red Bear ging zur Tür und rief nach jemandem. Wenig später kam eine zierliche blonde Frau herein, nackt. Sie hatte kleine Brüste, ein wundervolles Lächeln. Sie sah nach einerRussin aus, mit tief liegenden Augen und breiten Wangenknochen.
»Das ist Mira«, sagte Red Bear.
Mira kam herüber und setzte sich aufs Bett. Sie ergriff Leons Gürtel und öffnete die Schnalle.
»Und das ist Katya.«
Eine zweite Frau kam herein, ein dunklerer Typ, mit größerem Brustumfang und wie ihre Kollegin nackt.
»Irgendwie«, sagte Red Bear, »habe ich nicht das Gefühl, dass du dich bei diesen Damen wie ein Versager fühlen wirst.«
24
R ed Bear erinnerte sich auf den Tag, die Stunde, die Minute genau daran, wie er diese Narben bekommen hatte. Es war sein einundzwanzigster Geburtstag gewesen. Onkel Victor nahm ihn in den Geräteschuppen mit. Bis auf den heutigen Tag wusste niemand außer ihnen beiden, was sich in dem kleinen Betonschuppen abgespielt hatte, der wie ein Zwerg im Schatten der Hochhausriesen stand. Wer hätte geahnt, welch magische Kräfte vom Hinterhof eines Sozialwohnbaukomplexes in Toronto ausgingen, einer Stadt, die mit Magie so wenig anzufangen wusste.
Victor führte ihn zu dem Geräteschuppen, verband ihm die Augen und lotste ihn hinter die Rückwand in seinen Tempel. Zu dem Zeitpunkt machte der Gestank Red Bear oder Raymond, wie er bis dahin geheißen hatte, nichts mehr aus. Ihm wurde nicht übel davon, sondern im Gegenteil: Der Geruch beschleunigte seinen Puls. Onkel Victor hatte ihn auf diesen Tag vorbereitet, ihn jahrelang ausgebildet und ihn dem schwarzen, pochenden Herzen von Palo Mayombe immer näher gebracht. Raymond fühlte das Pulsieren ringsum, den Herzschlag der Magie.
»Heute ist der wichtigste Tag in deinem Leben, Raymond.«
Onkel Victors keuchende, geisterhafte Stimme klang wie ein Kazoo. »Heute mache ich dich zum Priester von Palo Mayombe. Denk dran, du musst diesen Schritt nicht tun. Jetzt ist noch Zeit, es dir zu überlegen.«
»Ich weiß. Ich will es, Onkel.«
»Bist du dir sicher?«
»Ich bin mir sicher. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche.« Raymond alias Red Bear atmete den Geruch von Kerzenwachs, exotischen Kräutern wie Fingerkraut und Wermut und in erster Linie fauligem Fleisch tief ein.
»Also gut. Zwei Dinge werden heute passieren. Als Erstes wirst du deine Seele aufgeben. Und zweitens wirst du ausgestrahlt. Du weißt, was das bedeutet?«
»Ja, Onkel. Meine Seele stirbt. Für mich wird es daher weder ewige Seligkeit noch ewige Verdammnis geben. Aber ich werde mehr Freiheit besitzen als irgendjemand sonst unter der Sonne: Ich habe die Freiheit, andere Seelen zu nehmen.«
»Und ausgestrahlt zu werden?«
»Ausgestrahlt zu werden bedeutet, dass ich den Schmerz der Narben im Gegenzug für Palo Mayombes Licht und Macht auf mich nehme.«
»Und du unterziehst dich diesen Dingen aus freien Stücken?«
»Ja.«
»Hat dich irgendjemand dazu gezwungen?«
»Nein.«
»Und dir ist klar, dass dies, wenn es einmal vollzogen ist, nicht rückgängig gemacht werden kann?«
»Ja.«
»Nun gut. Dann fangen wir an.«
Raymond hörte, wie sein Onkel das zeremonielle Messer aus der Scheide zog. Es folgte das Geräusch von Eisen gegen Schleifstein. Dann fesselte der Onkel seine Handgelenke mit den Ledermanschetten, die an der Decke hingen. Raymond bekam einen trockenen Mund. Sein ganzer Körper bebte.
Diese keuchende Stimme, rau wie Schmirgelpapier, hob jetzt zum Sprechgesang seiner selbst erwählten Religion, Palo Mayombe, an.
Dann die erste sengende Berührung der Klinge.
Wer kann die vollständige Rezeptur aufzählen, alles, was dazugehört, ein Monster zu erschaffen? Eine
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