Kalter Mond
hin?«
»Sie hat gesagt, sie will eins der anderen Mädchen auf der Station besuchen. Hat sie vorher auch schon gemacht. Die Kleine heißt Cindy, auf Zimmer 348.«
»Und Sie sind nicht mitgegangen?«
»Wollte sie nicht. Schlimm genug für sie, hier drin zu sein, wo sie nicht wirklich krank ist, da hab ich gedacht, gönn ihr ein bisschen Privatsphäre. Wie gesagt, keiner hat mich gewarnt, es gäbe bei ihr ein Fluchtrisiko. Es gab keinen Grund zu befürchten, sie könnte abhauen.«
»Falls sie tatsächlich abgehauen ist. Woher sollen wir wissen, dass sie nicht der Kerl, der sie töten wollte, gekidnappt hat?«
»Keiner hat irgendwas gesehen. Wäre sie gegen ihren Willen mitgenommen worden, hätte es Unruhe gegeben.«
»Hatte sie irgendwelchen Besuch?«
»Nee. Die ganze Zeit nicht.«
»Leihen Sie mir bitte mal Ihr Funkgerät.«
Burke schnallte es ab und reichte es Cardinal. Cardinal rief im Präsidium an und bat den Dienstleiter, eine allgemeine Fahndung nach Terri Tait einzuleiten. Er gab ihre Beschreibung durch und schaltete aus.
»Haben Sie das gesamte Dienst habende Personal befragt? Sie sind ganz sicher, dass niemand sie hat gehen sehen?«
»Ich hab alle gefragt. Keiner hat sie gesehen.«
»Wenigstens ist sie mit diesem feuerroten Haar leicht zu erkennen. Haben Sie mit dem Mädchen auf Zimmer 348 gesprochen?«
»Ja. Heißt Cindy Peele. War nicht viel aus ihr rauszuholen.«
»Ich red noch mal mit ihr. Wieso machen Sie nicht Feierabend?«
»Geben Sie mir jetzt die Schuld dafür, dass sie unerlaubt verschwunden ist?«
»Ich geb mir selber die Schuld. Ich hätte alle warnen müssen, sie nicht aus den Augen zu lassen.«
Cardinal ging in Terris Zimmer hinauf. Das Bett war zerwühlt, aber nicht so, als hätte jemand darin geschlafen. Er öffnete den Spind. Ihre wenigen Sachen waren verschwunden.
Cardinal ging den Flur entlang zu Zimmer 348. Ein Mädchen mit Kopfhörern saß lustlos an die Kissen gelehnt und sah fern. Ihr Haar, aschblond, hätte eine Wäsche vertragen, und sie trug einen kleinen, weißen Verband am linken Handgelenk. Als Cardinal den Raum betrat, wandte sie den Blick nicht vom Bildschirm. Cardinal ging bis zum Fernseher und deutete auf ihre Kopfhörer.
»Was!« Sie schnauzte ihn an, als hätte er sie seit Wochen genervt.
»Würden Sie bitte die Kopfhörer runternehmen, Cindy?« Sie zog sie herunter und hängte sie sich um den Hals. Ihr Gesicht war eine Karikatur blanker Wut.
Cardinal stellte sich vor.
»So ’n Schwachsinn. Wieso könnt ihr mich nicht alle in Frieden lassen?«
»Es geht nicht um Sie. Ich hab nur ein paar Fragen in Bezug auf die junge Frau ein paar Zimmer weiter.«
»Bin ich vielleicht ihre Zwillingsschwester oder was?«
»Sie hat Sie ein paarmal besucht, nicht wahr?«
»Und wenn? Wollen Sie mich deswegen verhaften?«
Der Ärger strahlte in heißen Wogen von dem Mädchen aus. Cardinal fühlte sich an Kellys Teenager-Jahre erinnert. Catherine war die meiste Zeit in der Klinik gewesen, und er hatte das virtuose Repertoire an negativen Gefühlen seitens seiner Tochter allein über sich ergehen lassen müssen.
»Wieso hat sie Sie besucht?«
»Hallo-o! Sie hat sich vielleicht zu Tode gelangweilt. Wer tut das hier nicht?«
»Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Nix Besonderes. Das Leben. Sie hat versucht, mich aufzuheitern. Als ob das irgendwas bringen würde!«
So klein und so viel Wut. Cardinal schätzte Cindy auf etwa eins sechzig. Zart gebaut. Ungefähr so wie Terri Tait, vielleicht einen Hauch kräftiger.
»Hat sie Ihnen irgendetwas von sich erzählt? Woher sie kommt? Wohin sie will?«
»Sie hat gesagt, sie ist aus British Columbia oder Vancouver. Was weiß ich. Sie studiert Theaterwissenschaften. Wollte ums Verrecken berühmt werden. Wer nicht? Meistens hat sie Fragen gestellt.«
»Was für welche?«
»So von der Sorte: ›Wo wohnst du? Wie viele Geschwisterhast du? Was sind deine Eltern von Beruf?‹ Auf so was fahr ich nicht ab. Sie so: ›Hast du einen Freund?‹, und ich: ›Seh ich so aus?‹«
»Hat sie Ihnen gesagt, weshalb sie hier in Algonquin Bay ist?«
»Nein.«
»Hat sie Ihnen erzählt, was ihr passiert ist?«
»Die doch nich.«
»Und Sie haben sie nicht nach dem Verband an ihrem Kopf gefragt?«
»Verband?«
Natürlich nicht, dachte Cardinal. Du hast ihn nicht mal gesehen. In deiner Welt existiert niemand außer dir.
»Sie hat mich allerdings gefragt, ob sie mein Handy benutzen darf. Und ich hab sie gelassen. Sagt, sie hat keins,
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