Kalter Schlaf - Roman
Chandler?«
»Der ist tot.«
»Er wäre überrascht und gekränkt, wenn er das von dir hören würde.«
Sie lachte und merkte wieder mal, wie gut ihr Joes Fähigkeit gefiel, Spannungen abzubauen. Selbst in finsteren Augenblicken. Dann wurde sie wieder ernst und sah auf ihr leeres Weinglas.
»Wir wissen eine Menge über das Schicksal dieser jungen Frauen, Joe. Das können wir nicht ignorieren. Wir dürfen es nicht einfach vergessen. Dazu kommt ein gewisses emotionales Bewusstsein dafür, was sie erlitten haben, welche Angst sie empfunden haben müssen.« Kate machte eine Pause. »Bei den ersten Ermittlungen ist böse geschlampt worden. Furman hat sich überhaupt keine Mühe gegeben. Er hat oberflächliche Anweisungen erteilt, Kästchen abgehakt, Leute befragen lassen, den großen Ermittler gespielt. Aber … er war nicht mit dem Herzen dabei, Joe, und ist es weiterhin nicht. Ich bezweifle, dass er in all den Jahren seit ihrem Verschwinden jemals wieder an diese jungen Frauen gedacht hat.«
Kate schüttelte ihre Locken aus und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Joe hatte zugehört und gewartet. Jetzt setzte er zu einer wohlüberlegten Antwort an. »Kate, wenn du echt Probleme bekommst, kann ich helfen …«
Ihr Herz begann zu jagen. Sie fürchtete sich vor dem, was er vielleicht sagen würde, und war vor Verlegenheit wie gelähmt.
»Nein! Nein, Joe, wirklich. Danke. Wir sind Kollegen … Freunde. Für Maisie und mich bist du nicht zuständig. Kevin mag ein egoistischer Idiot mit Bindungsangst sein, aber er würde nie zulassen, dass Maisie etwas entbehren müsste. Was ich vorhin über meine berufliche Zukunft gesagt habe … darüber muss ich mir um Maisies willen im Klaren sein. Aber wir können diese Fälle nicht wie bisher vor sich hin dümpeln lassen, nicht wahr? Oberflächliche Ermittlungen, ein paar halbherzige Vernehmungen, dann zurück mit den Akten in den Karton und ab in den Asservatenkeller! Sauber, ordentlich, vergessen. Wir sind Janine, Molly, Suzie, ihren Angehörigen – und Gott weiß, wem noch – einfach mehr schuldig!«
»Ganz deiner Meinung.«
Kate nickte, weil sie aus diesen wenigen Worten Aufrichtigkeit heraushörte. »Wer würde sich sonst die Mühe machen und sein Bestes tun, wenn nicht wir? Dies ist die letzte Chance dieser Mädchen, Joe. Unternehmen wir nicht alles, um ihn zu finden, werden ihre Fälle nie mehr aufgegriffen. Und was ist mit seinen zukünftigen Opfern, wenn wir ihn nicht fassen?«
Joe starrte zu Boden, als interessiere ihn der Rasen vor seinen Schuhspitzen. Er sah Kate nicht an, als er ruhig seine Frage stellte: »Was lässt dich so ticken, Kate?«
Die Luft um sie herum schien vor Spannung zu knistern. So direkt hatte noch nie jemand sie gefragt. Sie wusste, dass es darauf zwei Antworten gab. Celia hatte natürlich recht. Auch wenn Kate kaum mehr daran dachte, was ihnen an jenem Tag vor über dreißig Jahren zugestoßen war, hatte es dazu beigetragen, wer und was sie war.
Als Joe den Kopf hob, erwiderte sie seinen Blick. Beantworten konnte sie seine Frage nur, wenn sie ihm vertraute. Tat sie das?
»Du erinnerst dich an Celia? Nun, vor vielen Jahren, als wir noch Kinder waren … sind wir in eine Situation geraten. Mit einem Mann.« Kate machte eine Pause, um ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. »Er hat uns gesehen. Er hat uns gerufen.« Einatmen, ausatmen. »Er hat masturbiert, Joe.« Sie sah, wie er die Lippen zusammenpresste. »Ein halbes Jahr später ist er verhaftet worden. Weil er vier Kinder ermordet hatte.« Sie verstummte schwer atmend.
Joe wartete, ohne sie aus den Augen zu lassen. Als nichts mehr folgte, sagte er langsam: »Celia und du … Ihr habt verdammtes Glück gehabt.«
»Ich bin zu ihm gegangen, Joe. Er hat mich gerufen, und ich bin hingegangen.« Kate ließ den Kopf hängen.
»Kate, du warst ein Kind. Ich weiß nicht, wie alt …«
»Sechs. Wir waren sechs«, flüsterte sie.
Er nickte langsam. »Du hast nichts Unrechtes getan, Kate. Du hast in kindlicher Unschuld gehandelt.«
Kate rieb sich das Gesicht mit den Händen. »Wie die jungen Frauen.«
Joe wartete. »Aber das ist noch nicht alles.«
Sie zögerte. Das andere Erlebnis, das sie »ticken« ließ, wie Joe es ausdrückte, hing mit ihrer Arbeit als Gerichtspsychologin zusammen.
»Du weißt, dass ich manchmal als Gerichtsgutachterin tätig bin? Nun, vor einigen Jahren hatte ich mit einem Fall in Manchester zu tun, der sich zu mehr als einem gewöhnlichen Kriminalfall
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