Kalter Schlaf - Roman
entwickelt hat. Das Opfer war ein kleines Mädchen namens Karina. Sie ist eines Morgens tot in ihrem Bett aufgefunden worden.«
Kate spürte Joes Blick auf sich, als sie fortfuhr:
»Und ich war – bin es noch – davon überzeugt, dass sie ermordet wurde. Von jemandem aus ihrer Familie, die in dieser Nacht vollzählig zu Hause war. Karina war kerngesund, als sie ins Bett gegangen ist, Joe. Niemand hat sich als schuldig bekannt oder eine Beteiligung zugegeben. Ich sollte ein psychologisches Gutachten zu dem Fall abgeben. Die Polizei in Manchester hatte wegen ihres Todes ermittelt. Falls sie einen Verdacht oder eine Theorie hatte, konnte oder wollte sie nicht weitermachen. Der Kronanwalt war nicht bereit, Anklage zu erheben. Die Beweislage war angeblich zu dünn.«
Kate senkte den Kopf, dann sah sie wieder zu Joe hinüber.
»Wie du bestimmt aus eigener Erfahrung weißt, Joe, unterstützt unser System eine Anklageerhebung nur in Fällen, die ziemlich sicher zu einer Verurteilung führen. Mein Urteil über die Persönlichkeit des Stiefvaters, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal seiner Stieftochter und seine Fähigkeit, andere Menschen als bloße Objekte zu betrachten, wurde vollständig ignoriert. Weil das keine ›handfesten‹ Beweise waren.«
Joe schüttelte den Kopf, während sie fortfuhr:
»Karina war erst drei Jahre alt. Kleinkinder sterben nicht plötzlich im Bett, wenn ihnen nicht etwas zustößt. Trotzdem hat es weiter geheißen: ›Beweislage nicht ausreichend.‹ Man hat ihr Gerechtigkeit versagt, Joe. ›Das verstehe, wer will‹, wie du manchmal sagst. Meine Gerichtsgutachten sind so ausgewogen und exakt, wie ich sie nur schreiben kann – aber ich mache keine Ausflüchte oder weiche Problemen aus, die meiner Überzeugung nach angesprochen werden müssen.« Sie stellte ihr Weinglas ab. »Damit mache ich mir nicht viele Freunde.«
Die Musik hatte vor einer Minute gewechselt. Pachelbel hatte etwas Modernerem Platz gemacht.
Joe stellte sein Glas auf den Tisch, stand auf und griff nach Kates Hand.
»Was machst du?« Kate sah unbehaglich zu ihm auf, als er sie sanft hochzog, einen halben Schritt näher trat und ihr die Hand an die Taille legte.
»Ich denke, wir sollten diese Musik nutzen. Ich glaube, das wäre eine klasse Idee«, sagte er halblaut.
Kate runzelte leicht die Stirn. »Findest du diesen Song passend? Als ›perfect day‹ würde ich diesen Tag nicht gerade bezeichnen.« Sie spürte Joes Arme um sich, hatte seine ruhige Stimme im Ohr.
»Es ist nur ein Tanz, Red, und wie überall gibt es darin neben all dem Verrückten auch Gutes. Wir tanzen um der guten Dinge willen.«
Die Musik verklang, und sie gingen langsam ins Haus und zur Einfahrt hinaus. Dort blieben sie einige Sekunden lang schweigend neben Joes Auto stehen.
»Sehen wir uns morgen in der Rose Road?«, fragte Joe.
Sie nickte. »Ich bin pünktlich da.«
Zehn Minuten später ließ Kate in ihrem Zimmer die Jalousien herab. Sie stützte sich aufs Fensterbrett und blickte auf die stille Allee hinaus. Kein Blatt regte sich. Was hatte ihr jemand erzählt, als sie vor vielen Jahren hierhergezogen war? In Birmingham gab es mehr Bäume als Menschen. Ein erfreuliches Verhältnis, wenn diese Behauptung stimmte. Sie sah zum Himmel auf und fragte sich, ob das heiße Wetter bald enden würde.
»Mom?«
Sie drehte sich um. Maisie stand, ein Schulbuch in der Hand, an der Tür.
Ihr Waffenstillstand hielt noch immer. Kate dachte ungefähr zum hundertsten Mal an die kleinen blauen Tabletten … und verbannte sie resolut aus ihren Gedanken.
»Du arbeitest noch?«
Maisie nickte. »Englische Literatur. Ein Gedicht. Ich hab’s satt, weil es so langweilig ist.« Sie schmollte. Ihre Begabung lag eindeutig auf mathematischem und naturwissenschaftlichem Gebiet.
»Zeig mal her.«
Sie saßen nebeneinander auf Kates Bett und lasen das Gedicht.
»Wieso nimmt er ein blödes lateinisches Wort als Titel? Warum kein englisches?«, nörgelte Maisie. Zwischen ihren Brauen stand eine kleine senkrechte Falte, als sie sich neben Kate zurücksinken ließ.
Am Kopfteil des Betts lehnend, legte Kate einen Arm um ihre Tochter. »Eines musst du dir merken: Wenn Leute Geschichten oder Gedichte schreiben, neigen sie dazu, bestimmte Ausdrucksformen zu suchen, um nicht gleich alles preiszugeben und den Leser den Sinn des Ganzen nicht vorschnell erraten zu lassen.«
»Ja, klar. Und mir machen sie damit das Leben schwer!«
Kate lächelte. »Vielleicht
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