Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Schlaf - Roman

Kalter Schlaf - Roman

Titel: Kalter Schlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A J Cross
Vom Netzwerk:
haben sie das Gefühl, eine schwierige Situation überstanden zu haben, die ihr Leben verändert hat. Sie wollen andere an ihren Erfahrung teilhaben lassen, ohne diese zu trivialisieren. Deshalb finden sie ein Mittel, den Leser die Bedeutung erarbeiten zu lassen und sich um Verständnis zu bemühen. Sie glauben, dass ihre Erfahrung die Mühe lohnt. Ich denke, dass sie das auch tun, weil wir uns an Dinge, um die wir kämpfen mussten, am besten erinnern. Warum hast du’s nicht gegoogelt?«
    Maisie schmollte. »Mom, ich hab gerade drei Stunden synthetische und algorithmische Geometrie gemacht, obwohl ich mich damit auskenne. Aber dieses Zeug! Es ist langweilig, ich mag’s nicht, und es ist … nun, deprimierend.«
    Kate sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Kennst du den Hintergrund des Gedichts?«
    »Nein. Dodders hat es in meiner Gruppe ausgeteilt und gesagt: ›Das ist für euch, Girls, analysiert dieses wundervolle Werk. Bis morgen Punkt zehn Uhr!‹«
    Maisie hatte Miss Dodson, ihre Direktorin, sehr passabel nachgeahmt. Kate lachte und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie nahm Maisie das Buch aus den Händen.
    »Es handelt von einem Mann, der Knochentuberkulose hatte und sich ein Bein abnehmen lassen musste.«
    »Siehst du? Ich hab gesagt, dass es deprimierend ist.«
    »Das war vor über hundert Jahren, als seine Krankheit nicht heilbar war. Dieses Gedicht hat er im Krankenhaus geschrieben.« Kate deutete auf eine der Strophen. »Hier. Er sagt, er werde sich vom Schicksal nicht unterkriegen lassen. Und so war’s dann auch.«
    Sie beobachtete, wie Maisie die Strophe las.
    »Hm … er war entschlossen, nicht nachzugeben, hab ich recht?«
    »Genau. Er hat sich geweigert, sich in diese Lage zu ergeben. Das besagt schon der Titel: ›Invictus‹ heißt ›Unbezwungen‹.«
    »Okay. Schon kapiert. Er war tapfer und hat durchgehalten. Trotzdem ein bisschen deprimierend.«
    Maisie ging in ihr Zimmer zurück. Kate streckte sich auf dem Bett aus und genoss das relativ wenig vertraute Gefühl, wie vorhin von starken Armen gehalten zu werden.
    Was weiß ich über dich, Joe?
    Ruhig, lässig, witzig, ein guter Blitzableiter für meine Launen.
    Nach Maisies Urteil »cool«.
    Aber du hast mir nicht erzählt, was dich ticken lässt.

47
    Früh am Donnerstagmorgen war Kate wieder im Büro der KUF und fühlte sich unbehaglich, obwohl niemand mehr über den Eklat gesprochen hatte. Sie beschloss weiterzumachen, als habe es ihren Zusammenstoß mit Furman nie gegeben. Nach einem Blick auf Julians glattes Gesicht beschloss sie, mit den Informationen, die sie über ihn erhalten hatte, ähnlich umzugehen. Sie würde nichts tun oder sagen. Vorerst.
    In den letzten zehn Minuten hatte sie ihren drei Kollegen ihre Vorstellung von dem Täter erläutert. Sie hatte seine wahrscheinliche äußere Erscheinung geschildert: vermutlich ein Weißer, Mitte bis Ende dreißig, Besitzer eines hochwertigen Wagens und höchstwahrscheinlich in einer Partnerschaft lebend. Sie durften nicht auf das Klischee von einem traurigen Einzelgänger hereinfallen, von dem die Nachbarn später sagen würden, er habe »sehr zurückgezogen« gelebt. Kate hatte eingestehen müssen, dass es wegen der unterschiedlichen Tatzeiten der Entführungen nicht möglich war, mit Bestimmtheit zu sagen, ob er angestellt oder selbstständig war. Sie tendierte allerdings zu einer Angestelltentätigkeit. Seinem teuren Wagen nach zu urteilen, wie Josie Kenton-Smith ihn vor Jahren gesehen hatte, konnte er eine Führungsposition bekleiden, die außer Verantwortung auch Privilegien brachte – zum Beispiel relativ freie Zeiteinteilung.
    Sie hatte, in Bezug auf einige Aspekte seines Verhaltens als Sexualtäter und Mörder, das Gefühl, sich auf festerem Boden zu bewegen, da klar bewiesen war, dass er umsichtig planen und sich auf die Ausführung der Tat konzentrieren konnte. Das alles bedeutete, dass der Täter intelligent und geistig weitgehend gesund war. Als Kate das sagte, sah sie, wie Bernie in stummem Protest die Arme verschränkte.
    Sie hatte die Bedeutung des Täterverhaltens gegenüber den Opfern zusammengefasst: sexueller Sadismus, das Bedürfnis, jedes Opfer völlig wehrlos zu machen, das Bedürfnis nach Demütigung und Unterwerfung, fast sicher ein langjähriger Konsument von Hardcore-Pornografie. Sie schloss mit einem kurzen Hinweis auf denkbare frühkindliche Prägungen des Täters.
    »Sein Verhalten gegenüber jungen Frauen legt den Schluss nahe, dass es in

Weitere Kostenlose Bücher