Kalter Schmerz
Lügen oder Schweigen.
Jenny schien meinen Stimmungswechsel zu bemerken und warf mir einen Seitenblick zu. »Was ist?«
Ich blieb stehen und sah ihr in die Augen. »Hören Sie, ich will Ihnen keine Angst machen, aber ich weiß, dass das nicht stimmt.«
»Was meinen Sie damit?« Sie schaltete zu schnell auf Abwehr, viel zu schnell. »Wollen Sie vielleicht behaupten, dass ich lüge?«
Ich versuchte, nicht zu sehr in die Konfrontation zu gehen, hatte aber keine Lust auf Spielchen. »Ja, aber das stört mich nicht, Jenny, wirklich nicht. Ich bin nicht die Polizei. Ich werde es weder Ihren Eltern verraten, noch werde ich Sie wegen Behinderung der Justiz einbuchten. Ich will einfach nur wissen, was Sie nicht jedem erzählt haben.«
Sie verschränkte die Arme. »Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass ich lüge?«
»Emmas Handy war nicht abgestellt. Ihre Eltern haben ungefähr zehn Mal angerufen, und es war an. Sie haben überhaupt nicht versucht, Emma zu erreichen, sonst hätten Sie das gewusst.«
Jenny machte große Augen, und kurz hatte ich Angst, dass sie abhauen würde.
»Denk nicht mal im Traum dran«, sagte ich, jetzt ganz ernst. »Du hättest nicht mal genug Zeit, um Hilfe zu rufen.«
Fast konnte ich sehen, wie die Zahnräder in ihrem Kopf auf der Suche nach einem Ausweg surrten. Langsam bewegte sie sich rückwärts. Es waren zu viele Menschen um uns herum. Wenn die dumme Göre weglief, wäre sie fort.
»Nein«, sagte ich, griff nach ihrem Arm und zog sie weiter. »Hör zu, du persönlich bist mir scheißegal, es geht hier nicht um dich, sondern um Emma. Wenn du jetzt die Wahrheit sagst, siehst du mich nie wieder. Wenn nicht, wirst du dir wünschen,du hättest mit der Polizei gesprochen, als du die Möglichkeit dazu hattest.«
Sie zitterte. »Ich … ich schreie …«
Ich grinste. »Meinst du, damit hätte mir noch keiner gedroht?«
»Bitte … dieser Typ …«
»Wer?« Ich verstärkte den Griff um ihren Arm, zog sie an den Rand des Gehwegs. Ich war kurz vor dem Ziel, das sah ich an ihrem Gesichtsausdruck. »Emmas neuer Freund?«
»Er bringt mich um …«
»Wenn du es mir nicht sagst, wird er dein kleinstes Problem sein.«
»O Gott … na gut …« Sie schlug eine Hand vor die Augen, versuchte, sich aus meinem Griff zu winden. »Gut, er heißt … er heißt Kyle, Kyle Browning.«
Wer ist K?
»Kyle Browning?« Ich nickte, damit sie weitersprach.
»Er war … das war so ein Typ, mit dem sich Emma traf, und sie wollte nicht, dass ihre Eltern das wussten, deshalb hat sie ihnen erzählt, sie würde sich mit mir treffen. Ach, Scheiße …« Ihre Lippen bebten. »Lassen Sie mich gehen … bitte, bitte …«
»Gleich. Warum hast du Angst vor ihm?«
»Er ist einfach komisch. Emma wusste das, deshalb hat sie’s ihren Eltern nicht erzählt. Sie wollte ihn irgendwo in der Nähe von Peckham treffen, und ich hab mitgespielt. Er hatte mit Drogen zu tun und so was … ein echt übler Typ.«
Ich ließ sie los und schaute im Halbdunkel nach links und rechts in die grellen Neonlichter.
Sie hatte Abdrücke auf dem Arm.
»Hast du Geld für ein Taxi nach Hause?«, fragte ich.
Sie begann zu weinen. Niemand würdigte uns eines zweiten Blicks.
Ich holte mein Portemonnaie heraus und gab ihr dreißig Pfund. »Hör zu, such dir ein Taxi, ja?«
Ihre Finger schlossen sich um das Geld, doch sie konnte mich nicht ansehen.
»Das mit Emma tut mir wirklich leid«, fügte ich hinzu.
»Okay … tja.«
Jenny sah man ihr Alter an. Bei Emma war das nicht der Fall gewesen.
Ich stieg ins Auto und beobachtete, wie Jenny weiter unten auf der Straße ein Taxi heranwinkte. Ich sah ihr nach, bis das Fahrzeug verschwand. Es war schön zu wissen, dass wenigstens eine Tochter sicher nach Hause kam.
Als ich die Tür aufschloss, standen Koffer und ein schwarzes Paar Doc Martens im Flur.
Ich grinste und ging ins Wohnzimmer. Zum ersten Mal seit Wochen lief der Plattenspieler, und Mark lag der Länge nach auf dem Sofa. Er sah aus wie Sid Vicious, nur nicht so hager – stattdessen hatte er grüne Augen und ein entnervend symmetrisches Gesicht.
Ich dachte, er würde schlafen, aber er schlug die Augen auf. »Was geht?«
»Yo, Alter.« Ich lächelte. »So viel Urlaub, und nie wirst du braun.«
»Ich arbeite nicht in der Sonne.« Er ließ seine Eckzähne blitzen und setzte sich auf.
»Wie ist es gelaufen?« Ich ging in die Küche und stellte den Wasserkessel an. »Alles in Ordnung?«
»Keine nennenswerten Verletzungen.« Mark stand
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