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Kalter Schmerz

Kalter Schmerz

Titel: Kalter Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Jameson
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kam auf mich zu, rutschte leicht auf den Scherben aus. Ich fragtemich, ob sie etwas genommen hatte. »Du weißt überhaupt nichts!«
    »Dann erzähl mir, was ich nicht weiß!«, schrie ich zurück, und mein Herz raste, so nah war sie mir.
    »Du hörst nicht zu!«
    Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen und wandte sich ab, eine Hand vor dem Gesicht. Ihre Schultern zitterten einen Moment lang, dann war es vorbei. Sie trat ein paar Scherben beiseite, schob mit der Fußspitze ein Foto über den Boden, aber sah mich nicht mehr an.
    »Warum hast du mir das Video geschickt?«, fragte ich. Mir war schwindelig.
    »Ich wollte …« Sie drehte sich noch immer nicht um, aber ich sah, dass sie sich die Augen rieb. »Ich wollte dir das Schlimmste über mich erzählen.«
    »Das … verstehe ich nicht.«
    »Wer sagt, dass ich das erwartet habe?«
    Sie machte einen Schritt auf die Hintertür zu, richtete den Blick in die Ferne und wirbelte herum, riss den Kopf in den Nacken, die Lippen geöffnet. Es fiel mir nicht schwer zu glauben, dass sie die Küche nicht mehr wahrnahm, auch mich nicht.
    Vorsichtig trat ich auf sie zu, sie drehte sich auf einer sauberen Stelle im Kreis, ich wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen. Wenn sie tanzte, war es, als würde sie diese Welt verlassen. Ich hatte dieses Bild im Kopf, wenn ich sie versuchte zu berühren, würde ich durch sie hindurchfallen, wie durch einen Geist.
    » Nicht!«
    Ich hielt inne, obwohl ich nicht wollte.
    Sie sah mich an, starrte mich ohne zu blinzeln nieder. » Wag es nicht, mich anzufassen.«
    Vielleicht war es in gewisser Hinsicht das, was ich die ganze Zeit gewollt hatte. Ich zog sie an mich, heftiger als beabsichtigt,und küsste sie. Sie riss sich kurz los, überraschend kräftig, und zerrte uns beide zur Seite, bohrte mir die Nägel in die Unterarme.
    Sie schlug mir ins Gesicht, erwiderte meinen Kuss, und es fühlte sich an wie das, worauf ich gewartet hatte. Einen Augenblick war das alles, was in meiner Welt existierte. Ich umfasste ihre Oberarme, hinterließ Abdrücke über denen, die schon da waren, bis mir klar wurde, wie wahnsinnig das war, was ich da tat. Ich ließ sie los.
    Die Musik war verstummt.
    Ich rechnete damit, dass sie mich wieder schlagen würde, doch sie blickte ins Leere, und ihre Lippen waren rot geschwollen.
    »Es … Scheiße, es tut mir leid«, sagte ich.
    Sie brach in Tränen aus.

20
    »Ich wusste echt nicht, was ich mit den ganzen Fotos machen soll, deshalb habe ich sie hier reingelegt.«
    Ich zögerte es so lange wie möglich hinaus, bis ich mich neben sie aufs Sofa setzte, die Finger ineinander verschränkt, damit sie nicht zuckten. Es war sonderbar, das Leben eines Menschen auf einen Schuhkarton reduziert zu sehen. Mein Leben würde wahrscheinlich keinen Karton füllen.
    »Die hier sind richtig alt. Da war sie erst ungefähr acht.«
    Auf den ersten beiden Bildern sah man Emma mit ihrem Vater, sie grinste zahnlückig. Pat sah jünger aus, viel jünger und nicht so verbraucht. Ich fragte mich, ob er schon immer so gewesen war wie jetzt oder ob er so hart geworden war, weil er zu lange mit den Abscheulichkeiten des menschlichen Daseins zu tun gehabt hatte.
    »Dies ist bei ihrem sechsten Geburtstag, zusammen mit meiner Mutter.«
    Ich nickte und versuchte zu ignorieren, dass mein Bein ihres gerade so berührte, wie ihre Finger meine streiften, wenn sie mir eine Aufnahme reichte. Ihre Haut war wärmer, als ich erwartet hatte.
    »Auf diesen hier müsste sie ungefähr vier sein. Gott, das kommt mir jetzt so lange her vor.«
    Ich betrachtete das kleine dunkelhaarige Kind und spürte einen Kloß im Hals. Das Mädchen, das dort im Garten spielte, hatte keine Ahnung davon, dass junge Frauen tot in einem Leichenschauhaus enden konnten, und ich beneidete sie um ihr seliges Nichtwissen.
    Clare gab mir ein anderes Bild. Ihre Augen waren noch rotund geschwollen, weil sie eine halbe Stunde weinend in meinen Armen auf dem Küchenboden verbracht hatte. Sie wirkte zu zerbrechlich, um eine solche Trauer auszuhalten. Ich glaubte schon, das Schluchzen würde sie ersticken.
    »Das hier war letztes Jahr in Frankreich, und dieses wurde auf ihrem letzten Geburtstag gemacht.«
    Ich fand, Emma sah viel älter aus als ein Teenager, für Eltern ein beunruhigender Umstand. Ihre gesamte Erscheinung verhieß Ärger, ihr herausfordernder Blick und die selbstsichere Körperhaltung.
    »Sie wirkt … glücklich«, sagte ich.
    Meine wahren Gedanken wären jetzt kaum gefragt

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