Kalter Schmerz
der Küchentür stehen, schüttelte ihr Haar aus dem Pferdeschwanz. Dass ich eingetreten war, beachtete sie nicht weiter. Ihr Rock war zu kurz, ihr Oberteil zu eng. Wie bei Mark war an ihr kein einziges Gramm Fett, aber anders als Mark sah sie allmählich wie die Karikatur eines Menschen aus. Ihr Gesicht war ein bemalter Schädel, bestand nur noch aus Lippen und Wangenknochen.
»Alles in Ordnung?«, rief ich.
Sie stieß sich von der Wand ab und schlitterte über den Küchenboden wie ein Kind, das auf eine Eislaufbahn tritt, Stöckelschuhe knirschten auf Glasscherben. Als sie sich umdrehte, lag ein seltsames angedeutetes Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Arme waren mit roten und violetten Flecken übersät.
»Mir geht’s gut … gut.«
Als ich mich ihr näherte, bemerkte ich auf der Arbeitsfläche in der Küche einen Schuhkarton. Darum verteilt waren Dutzende von Fotos: einige von Emma, andere von der ganzen Familie. Die Musik, die ich hörte, klang verzerrt, als würde ein Gitarrensolo rückwärts gespielt.
»Die hab ich rausgeholt«, sagte sie und drehte sich in den Scherben. Mit hohen Absätzen war sie noch größer, ihre Stimme war dünn und flüchtig. Sie wirkte wie ein Bild, das über die Wirklichkeit geblendet wurde, nichts Greifbares. »Möchtest du sie sehen?«
»Ähm … ja, klar.« Ich wusste nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Ich hatte das Gefühl, darauf reduziert zu sein, den Fortgang des Geschehens auf einer Leinwand zu verfolgen, ohne irgendeinen Einfluss auf den Ausgang nehmen zu können. »Ich dachte, wir müssten reden.«
»O Gott, willst du mit mir Schluss machen?« Sie lachte über ihren Witz und lehnte sich gegen die Küchentheke, die Augen auf dem Schuhkarton. »Worüber wolltest du reden?«
»Hast du dich gut mit Emma verstanden?«
»Was ist das denn für eine Frage?«, fuhr sie mich an.
»Eine berechtigte.«
»Ein interessanteres Thema fällt dir wohl nicht ein?«
»Und, hast du?«, hakte ich nach, ihre Frage ignorierend.
»Was hat das mit …?« Sie schob die Fotos auf der Arbeitsfläche herum, als würde sie eine Collage anfertigen. »Jetzt ist es doch eh egal.«
»Gott, warum kannst du nicht einfach Ja oder Nein sagen? Du würdest es dir so viel einfacher machen.«
»Mir? Dir, meinst du wohl.«
»Nein, verdammt noch mal, ich …«
»Ich habe die alle zusammengesucht, weißt du«, sagte sie. »Wenn man Kinder hat, erkennt man, nehme ich jedenfalls an, dass sie die … die perfekteste Form der Selbstverwirklichung sind, die es gibt.«
Ich bekam einen trockenen Mund. »Wie … wie meinst du das?«
»Man könnte der größte Maler der Welt sein, der beste Tänzer, Sänger, egal … Aber wenn man einmal ein Kind hat, das schlägt alles. Nichts kommt da auch nur entfernt heran …« Sie verstummte. »Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.«
»Warum hast du mit dem Tanzen aufgehört?«, fragte ich.
»Abnormal groß«, sagte sie, griff zu einer Handvoll Fotos und blätterte sie durch. »Deren Worte, nicht meine.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Beim Modeln ist so was nützlich, also, wenn man einfach nur irgendwo auflaufen muss, damit die Leute Fotos machen und einem irgendwelchen Unterhaltungskram schenken. Nicht so nützlich, wenn man … irgendwas anderes machen will, schätze ich. Aber mehr wollen die Leute ja eh nicht.«
»Als was?«
»Als was Schmückendes.« Sie hielt mir mehrere Fotos hin. »Ein hübsches, total nichtssagendes Schmuckstück. Versteht natürlich keiner, wenn man das nicht mitmachen will, alle glauben, was anderes wolle man gar nicht sein.«
Ich nahm die Fotos, wandte den Blick aber nicht von ihr ab. »Was war mit Emma?«
»Was soll mit ihr gewesen sein?« Clare spuckte die Worte aus. Sie hatte eine neue Prellung – wie jedes Mal auf der Stirn oder auf der Wange. »Ich kann dir nicht sagen, was du wissen willst.«
»Habt ihr euch verstanden?«
»Sie war meine Tochter.«
»Das ist keine Antwort.«
»Tja, das ist aber meine verdammte Antwort.«
Ich wollte etwas sagen, das sie provozieren würde. »Warst du neidisch auf sie?«
Sie fegte das nächste Wasserglas von der Arbeitsfläche, zielte auf mich.
Ich sprang zurück durch die Tür, das Glas zerbrach zu meinen Füßen, ich ließ die Fotos fallen.
»Raus hier!«, zischte sie.
»Am Arsch«, sagte ich. »Warst du neidisch auf sie, weil sie die Möglichkeit hatte, das zu tun, was du nicht konntest?«
»Du hältst dich für so schlau, ha, weißt du, was …« Sie
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