Kalter Schmerz
gewesen.
»War sie auch. Ich …« Sie brach mitten im Satz ab.
Ich verkrampfte.
»Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich … ich glaube, das habe ich noch nicht getan.«
»Was?«
»So über sie gesprochen, in der Vergangenheitsform.« Ihr Lachen wirkte falsch. »Es ist so albern, die ganze Zeit über sie zu reden, als wäre sie nur im Urlaub oder so.«
»Mein Bruder ist gerade gestorben.« Ich legte die Fotos auf meinen Knien ab, und zum ersten Mal, seit es geschehen war, fühlte es sich nicht so an, als sei es jemand anderem passiert und ich hätte nur zugesehen. »Er war schon so lange in Afghanistan, dass es mir gar nicht so vorkommt, als hätte sich was geändert. Ganz schön schräg.«
»Oh, das tut mir wirklich leid.« Es klang aufrichtig. »Es wundert mich, dass du einen Bruder hast.«
»Schwester auch, und Eltern, wie ganz normale Leute.«
»Wie geht’s denen damit?«
»Ich …« Ich hatte immer noch nicht zurückgerufen. »Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein.«
»Standet ihr euch nahe, dein Bruder und du?«
»Nein. War aber vor allem meine Schuld. Meine Schwester Harri und ich, wir haben’s ordentlich verbockt. Und zwar richtig , das kannst du dir gar nicht vorstellen …« Ich sprach weiter, die Worte sprudelten wie von selbst hervor. »War also nicht seine Schuld, wir fühlten uns einfach nur … minderwertig im Vergleich zu ihm, denke ich.«
Sie nickte, rieb sich über die Prellung auf der Stirn. Fast übermannte mich der Drang, sie zu berühren.
»Ich begreife das nicht«, sagte ich. »Warum machst du …? Wie kannst du ihn immer noch verteidigen?«
Ein Ausdruck von Erschöpfung schlich sich in ihr Gesicht, sie seufzte. »Es ist nicht seine Schuld, ich … Manchmal ist es besser, überhaupt etwas zu fühlen, denke ich. Oder zumindest etwas … anderes.«
»Verstehe ich nicht.«
»Du könntest … vielleicht.«
Ich wollte sie wieder küssen.
Am anderen Ende des Zimmers klingelte ein Handy, und sie stand auf. Einen Moment schaute sie es an, und als sie sich entschied dranzugehen, hörte ich Pats Stimme, ohne dass es laut gestellt war.
Als er zu schreien begann, hielt Clare das Telefon einige Zentimeter vom Ohr weg. Ich hörte die Wörter »verdammt«, »Lüge« und »Schlampe«. Kurz malte ich mir aus, wie ich ihm ins Gesicht schlug, immer und immer wieder …
»Spar dir die Luft für den Anruf bei deinem Anwalt, Liebling «, sagte sie.
Pat wollte etwas erwidern, doch sie schnitt ihm das Wort ab und legte das Telefon weg.
In ihren Augen blitzte es hämisch.
Sie sah mich an. »Du musst gehen. Ich habe noch was … zu tun.«
»Was denn?«
Sie überhörte es. Es war immer ihre Unterhaltung, nie meine. »Wenn ich dich anrufe, kommst du dann?«
Ich zögerte. Aber nicht lange genug, um überzeugend zu wirken. Sie danach zu fragen, was gerade passiert war, wäre sinnlos gewesen.
»Ja«, sagte ich.
Sie lächelte, aber ich war mir nicht sicher, ob sie damit mich meinte. »Okay.«
Ich stand auf und hielt ihr die Fotos hin.
Sie nahm sie entgegen und schlang ihre Finger kurz um meine. Es war, als hätte sich ein Nebel über ihr Gesicht gelegt – sie war nicht mehr da. Ich ging, ohne noch etwas zu sagen, hatte das Gefühl, etwas Giftiges krieche mir über die Haut.
Ich zog die Haustür hinter mir zu, stand in der Einfahrt und atmete tief durch, bevor ich zurück zur Straße ging. Ich widerstand der Versuchung, mich zum Haus umzudrehen, hatte Angst, sie könne mich beobachten.
Mein Handy klingelte, als ich den Gehweg erreichte. Erst als ich überzeugt war, außer Sicht zu sein, meldete ich mich.
Es war Pat.
»Nic«, sagte er, und es klang, als atme er durch die Zähne. »Du musst mir einen Gefallen tun, einen persönlichen. Ich zahle auch was drauf, wenn’s sein muss.«
»Ich …« Ich hielt inne, mir fiel ein, dass ich das Telefonat mit Clare eigentlich nicht mitbekommen hatte. »Ja, klar. Was denn für einen Gefallen?«
»Ich hatte Besuch im Büro … Ich glaube, ich bekomme eine Anzeige wegen Körperverletzung. Möglicherweise wegen tätlichen Angriffs, keine Ahnung, weiß Gott, was sie ihnen erzählt hat. Nic …« Er hielt inne. »Nic, ich meine es ernst, du musst sie für mich im Auge behalten.«
»Clare?«
»Du musst auf sie aufpassen. Selbst wenn ich auf Kaution rauskomme, werde ich nicht nach Hause können.«
Ich rutschte auf einer vereisten Stelle aus. Ȁhm, sorry, aber ich verstehe dich nicht richtig. Ich meine, ich verstehe schon, aber
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