Kalter Schmerz
wich ihrem Blick aus und brachte sie zur Haustür, ihre Hand mit den Schuhen um meine Schulter geschlungen.
»Irgendwo muss … der Schlüssel sein …«
Clare kramte in ihrer Tasche herum, ich ließ sie vorsichtig runter, damit sie die Tür aufschließen konnte. Sie war immer noch nicht in der Lage, ohne Hilfe zu stehen, ich hielt sie mit einem Arm fest, als wir ins Haus traten. Ihre Haut wirkte gelblich im grellen Licht.
»Alles klar, du kannst … gehen.«
»Red keinen Blödsinn, du kannst nicht mal stehen.«
»Ich … red … keinen Blödsinn.«
»Hör zu, leg dich ins Bett, dann hole ich dir ein Glas Wasser.«
Sie wankte auf die Treppe zu.
»Ja, leck mich …«, sagte ich und nahm sie auf den Arm.
»Ich mach das … das meinte ich ernst, als ich gesagt hab, dass ich das … sonst nicht mache. Zumindest lange nicht mehr.« Auf dem Weg nach oben ließ sie einen Schuh fallen, doch ich achtete nicht darauf. »Früher hab ich das ständig gemacht … ich war der … der Mittelpunkt jeder Party.«
Zum ersten Mal bemerkte ich die Falten um ihre Augen.
Ich stieß die Schlafzimmertür auf und setzte sie ab. »Bleib hier, ich hol dir ein Glas Wasser.«
Clare hockte sich auf die Bettkante, einen Schuh in ihrem Schoß – die Fußsohlen schwarz von Bürgersteig und Straße. Ein paar Tränen waren ihr aus den Augen getreten und hatten den Eyeliner verschmiert. Ohne mich anzusehen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und wickelte es zu einem straffen Knoten zusammen.
»He, mich stört das nicht«, sagte ich. »Du siehst gut aus.«
Sie antwortete nicht.
Ich ging nach unten und nahm den zweiten Schuh von der Treppe. Das schwarze Wildleder war vom Asphalt stumpf und zerkratzt. In der Küche legte ich ihn beiseite, drehte den Wasserhahn auf und ließ ein Glas voll laufen.
Wenn ich schon hier war, konnte ich auch gleich ihren Laptop suchen, dachte ich, aber das würde ich später tun. Das musste nicht sofort sein.
Ich nahm das Glas und den Schuh und stieg wieder nach oben. Durch Pats Abwesenheit war das Haus stiller als je zuvor. Als ich an Emmas Zimmer vorbeiging, überlegte ich, ob ich es noch einmal durchsuchen sollte, aber das konnte auch warten.
Clare saß dort, wo ich sie zurückgelassen hatte, schaute auf den Schuh in ihrem Schoß, als sei er ein Schuhkarton, der ihr Leben enthielt.
Ich versuchte mir vorzustellen, was sich wohl darin befände.
»Danke.« Mit zitternder Hand griff sie nach dem Wasser und steckte sich ein Minzbonbon vom Nachttisch in den Mund. »Ich … o Gott, das tut mir so leid. Das ist so … ekelig.«
Ich stellte den zweiten Schuh vor den Spiegelschrank. »Ist schon gut, wirklich.«
»Ich dachte, wenn ich feiern gehe, würde das … was ändern«, sagte sie zwischen zwei Schluck Wasser.
Kurz blieb ich stehen, dann setzte ich mich neben sie. Sie sah mich eh nicht an.
»Schlaf deinen Rausch aus. Morgen früh geht es dir … na ja, wahrscheinlich ziemlich scheiße.«
»Es stimmt aber, weißt du«, sagte sie. »Meine Freunde früher … die haben nicht nur gesagt, ich wäre der Mittelpunkt der Party … sie haben gesagt, ich wäre … ich selbst wäredie Party. Nic, ich … als Emma …«
»Was?«
»Nichts … nichts Wichtiges.«
Sie stellte das Wasserglas auf den Boden, lehnte den Kopf gegen meine Schulter und wischte sich Tränen von den Wangen. Es schien sie zu beruhigen.
»Ist komisch, dass du so nett bist« sagte sie.
Ich lachte.
»Nein, im Ernst … Ich wüsste gerne, warum du die Menschen so hasst.«
»Tja, und ich wüsste gerne, warum du dich selbst so hasst.«
»Hm, tja … du zuerst.«
Mit einem koketten Lächeln löste sie den Kopf von meiner Schulter und rollte sich am Fußende des Bettes zusammen. Sie hatte die Augen geschlossen, aber schien zuzuhören.
Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Sie stieß mich mit dem Zeh an. »Los!«
Lächelnd schob ich ihren Fuß von mir und machte mir klar, dass ich ihr etwas würde geben müssen, wenn ich irgendwelche lohnenden Informationen aus ihr herausbekommen wollte.
»Ich hab jemanden umgebracht, einen Jungen, als ich siebzehn war. Es war keine Absicht, er hatte das Messer dabei.« Ich sah ihr ins Gesicht, um abzuschätzen, wie entsetzt sie war, doch sie hielt die Augen weiterhin geschlossen. Ich war mir nicht sicher, ob sie eingeschlafen war, redete aber trotzdem weiter. »Ich war eine Weile im Jugendknast, wurde dann verlegt, ein Jahr normaler Strafvollzug, danach wurde ich entlassen, stellte offenbar keine
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