Kalter Schmerz
jemand sie vermissen würde, und selbst wenn, war es egal. Die schlimmste Reaktion, die ich mir vorstellen konnte, war ihre Missbilligung.
Mitten auf der Tür des Hauses in Shooters Hill prangte immer noch der Fußabdruck. Ich rauchte hastig, bekämpfte damit die Angst, die in meinem Magen gärte, seitdem ich am Morgen aufgewacht war.
Es dauerte einen Moment, bis aufgemacht wurde, aber ich erkannte das Mädchen, das die Tür öffnete. Sie war platinblond, dünner als Harriet, strahlte sogar noch weniger Wärme aus als meine Schwester und trug ein durchsichtiges Netzshirt und eine Jeans.
Es war das Mädchen, das ich beim letzten Mal mit einer Nadel im Arm an das Kopfteil des Bettes gelehnt gesehen hatte.
Mir doch scheißegal.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Ist sonst noch jemand da?«, fragte ich. »Ich war schon mal hier und hab Kyle gesucht.«
Kurz zuckte Erkennen über ihr Gesicht, doch es schien ihr nichts zu bedeuten. »Er ist nicht hier, war schon länger nicht da … Er hat gesagt, ich kann so lange bleiben, wie er Miete gezahlt hat.«
»Das heißt, du wohnst hier?«
»Sieht so aus. Wer bist du?«
»Ich heiße Nic, bin Privatermittler.« Ich ließ die Zigarette fallen und zertrat sie mit dem Schuh. »Ich wollte mit dir über einen Jungen namens Joe O’Donoghue sprechen. Du könntest ihn als Meds gekannt haben.«
»Ich kenne … Ich kannte Meds.« Sie lächelte. »Hat sich alles reingepfiffen, bis auf das Beste.«
»Kann ich mit dir reden?«
»Von mir aus. Glaub aber nicht, dass ich dir viel sagen kann.«
Sie ließ mich herein und lümmelte sich auf einen verschlissenen Sessel im Wohnzimmer. Da jetzt nicht überall Leute auf dem Boden lagen, wirkte der Raum größer, aber aus den halbleeren Packungen vom Lieferdienst stank es nach abgestandenem Essen. Über allem lag eine dicke Schicht Staub, und in der Ecke stand eine Vase mit toten Blumen.
»Wie heißt du?«, fragte ich und setzte mich auf die Armlehne des Ledersofas, bevor mir klar wurde, dass Matts Foto dort gemacht worden war.
»Daisy.«
»Daisy?«
»Ja. Ist das schlimm?«
»Wie alt bist du?«
»Neunzehn – was interessiert dich das?«
»Nur so … Müsstest du nicht eigentlich bei deinen Eltern wohnen oder zur Uni gehen oder so?«
Ihre knochigen Hände zitterten nicht, als sie sich eine Zigarette anzündete. Sie grinste mich an. »Uni? Von wegen. Wer hat so viel Geld? Meine Mutter hat einen an der Klatsche und mein Vater ist ein versoffener Alkie. Also vielen Dank der Nachfrage, aber ich glaube, hier geht’s mir ganz gut.«
Ihre Lippen waren knallrot geschminkt, sie trug keinen BH unter ihrem Netzshirt. Wenn sie sprach, sah ich erstaunlich weiße, ebenmäßige Zähne.
»Kanntest du Meds gut?«
»Er war nett. Hat nicht ständig versucht, was zu schnorren. Total der Oberspießer, aber er konnte ja nichts dafür, bei seinem Zustand, weißt du?«
»Kanntest du auch Emma Dyer?«, fragte ich aus einer Laune heraus.
Ihre Augen wurden etwas größer. »Ems? Gott, hab gehört, sie wär tot … Dachte letztens schon, sie war ewig nicht mehr da gewesen.«
»Wer hat gesagt, dass sie tot ist?«
»Ah, Matt. Kyle war deswegen ziemlich fertig, aber unter uns gesagt, ging es Matt genauso dreckig. Der war so was von Hals über Kopf … also, der fiel immer wieder auf solche Zimtzicken rein. Sie kokste ganz ordentlich, aber sie war eine kleine Madame, weißt du, was ich meine? Die Typen sind ganz heiß auf so was. Egal … es war ganz schön traurig.«
»Matt hatte eine Schwäche für Emma?«
»Ja, echt schlimm. Fast schon tragisch. Hatte immer ganz viele Fotos von ihr dabei, auf denen sie feierte und so, lief Kyle und ihr nach wie so’n Hündchen, aber sie wollte nichts von ihm wissen. Sie hatte echt was für Kyle übrig, aber ich schätze, dass Matt …« Als gefalle Daisy nicht, wohin der Satz steuerte, brach sie ihn ab und legte den Kopf schräg. »He, bekomme ich irgendwas dafür, wenn ich mit dir rede?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Willst du Geld?«
»Ja, das wäre cool, danke. Nur so eine Idee.«
Ich sah mich wieder im Zimmer um und entdeckte, dass in dem Regal über dem verfallenen Kamin unzählige Vogelfiguren in allen Größen und Formen standen.
»Sind das deine?« Ich wies lächelnd darauf.
»Bei Partys tu ich die weg.« Sie zuckte mit den Schultern, leicht beschämt. »Ich mag halt Vögel. Sind netter als Menschen.«
»Und, warst du hier, als Meds starb?«
»Ja, da haben wir gerade gefeiert. Nur ich und ein paar
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