Kalter Süden
dann sehen wir uns ja schon am Montag, wenn ich dich im Hort abhole.«
»Ich vermisse dich, Mama.«
Sie schloss fest die Augen und räusperte sich.
»Ich vermisse dich auch. Ist Ellen noch auf?«
»Die schläft, das Baby.«
»Das solltest du auch tun. Schlaf jetzt schön. Ich habe dich lieb.«
Die Wärme, die sie in sich spürte, entlockte ihr ein Lächeln, und sie wartete auf Kalles gewohntes Sprüchlein am Schluss ihrer Telefonate: Ich hab dich soooo lieb, Mama, weil du die beste Mama der ganzen Welt bist. Aber es kam nicht.
»Mama?«
»Ja?«
»Heiratest du Papa wieder?«
Sie schlug die Augen auf und sah Thomas auf dem Parkplatz umhergehen, wie er es immer tat, wenn er rastlos war. Er stand nie still.
»Nein, mein Schatz, das werde ich nicht tun. Hier kommt Papa, du kannst ihm auch noch gute Nacht sagen.«
Sie reichte Thomas das Telefon, ging zurück an den Tisch und starrte in die Nacht. Es war inzwischen völlig dunkel. Die Wärme des Tages war noch spürbar, der Wind hatte nachgelassen. Thomas beendete das Gespräch und packte sein Handy weg.
Der Kellner räumte ihre Vorspeisenteller ab und brachte ein Gestell, auf das er eine zischende Steinplatte legte. Dann trug er dünne Scheiben T-Bone-Steak auf, Gemüse und drei verschiedene Soßen und erklärte ihnen, wie sie das Schmalz auf dem Stein erhitzen konnten, um dann die Steaks darin zu braten. Es fauchte und zuckte und qualmte und schwelte.
Wie verhext starrte Annika in die Flamme, die unter dem Gestell brannte, und lauschte dem Zischen.
»Manchmal fehlst du mir«, sagte Thomas.
Er legte ein Stück Fleisch auf die Platte.
»Du bist nie mit dem Strom geschwommen. Du hast immer deine Meinung gesagt. Ich war nach unseren Diskussionen nie besonders zufrieden, aber immer ein Stück schlauer.«
Sie antwortete nicht.
Thomas grillte und säbelte, grillte und säbelte.
Annika hatte sich schon an den Vorspeisen satt gegessen.
Die Flamme unter dem Gestell zuckte noch einmal auf, dann erlosch sie.
Der Kellner kam und räumte die leeren Teller ab.
Sie wollten beide kein Dessert oder Kaffee. Thomas übernahm die Rechnung und bezahlte mit einer Karte, die Annika noch nie gesehen hatte. Er unterschrieb mit seiner altbekannten, geschwungenen Signatur und legte einen Zehn-Euro-Schein als Trinkgeld dazu.
»Bezahlt Vater Staat?«, fragte sie.
»Wohl kaum. Man will ja nicht im Abendblatt landen.«
Sie lachte.
»Das ist mein Privatkonto«, sagte er. »Wir haben auch ein gemeinsames, für Essen, Reisen und sonstige Ausgaben …«
Annika wandte den Kopf ab. Auf dieses gemeinsame Konto konnte sie nun echt scheißen.
Er bemerkte ihre Reaktion und blickte sie scheu an.
»Ab und zu frage ich mich, ob wir wirklich alles versucht haben«, sagte er.
Sie fröstelte, es war ein wenig abgekühlt. Sie war froh, dass sie ihren scheußlichen Pulli angezogen hatte.
»Wollen wir fahren?«, fragte sie.
»Gehen wir noch etwas trinken?«, schlug er vor. »Unten im Hafen vielleicht?«
»Ich glaube nicht, ich bin ziemlich kaputt.«
Sie verließen das Restaurant und gingen zum Parkplatz. Es waren fast keine Autos mehr da.
»Vermisst du mich?«, fragte er. »Manchmal?«
Die ganze Zeit, dachte sie. Jeden Tag, jede Stunde, die ich allein verbringe. Oder vielleicht doch nicht?
Sie holte tief Luft.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie dann. »Nicht mehr so sehr. Am Anfang war es schlimm. Als du weg warst, fühlte es sich so an, als hätte ich ein schwarzes Loch in mir drin. Es war, als wärst du tot.«
Sie blieb neben dem Auto stehen.
»Eigentlich wäre es besser gewesen, du wärst wirklich gestorben. Dann hätte ich zumindest das Recht gehabt zu trauern.«
»Ich habe nicht gewollt, dass es dir schlechtgeht«, sagte er.
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen.«
»Ich weiß«, erwiderte er.
Sie stiegen ein und fuhren schweigend durch die Straßen von Nueva Andalucía. Der Himmel war dunkel und sternenlos. Im Laufe des Abends waren vom Atlantik Wolken aufgezogen.
»In so einer Nacht ist die Familie Söderström ermordet worden«, sagte Annika. »In einer wolkigen Nacht, aber es war kälter. Sie hatten in allen Zimmern die Heizung an.«
»Wollen wir nicht doch noch etwas trinken gehen? Nur ein Bier oder einen Kaffee?«
»Ein Bier vielleicht«, sagte Annika.
Sie parkten vor dem Hotel Pyr und gingen zu Fuß zum Hafen hinunter.
Auf der Hafenstraße drängten sich die Menschen und machten nur gemächlich Platz, als ein Lamborghini durchfahren wollte. Die Bars
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