Kalter Süden
denn als Engel war sie ja eine Dienerin Gottes, und wer könnte schon besser behütet sein als Gottes kleine Kinderschar? Doch das Trollmädchen versteckte ihre Stimme, und mit ihren schmalen, schwarzen Augen konnte sie um die Ecke sehen.
Die Einzige, die die Stimme des Trollmädchens hören durfte, war die Prinzessin, die schönste aller schönen Prinzessinnen auf der ganzen Welt, ja, sie war beinahe selbst ein Engel, denn sie konnte die Sprache der Engel auch sprechen. Sie hatte gehört, wie die Mädchen oben unter dem Dach, wo sie wohnten, miteinander sprachen. Sie redeten nur, wenn sie glaubten, dass niemand sie hörte, und die Prinzessin erzählte ein Märchen vom Schloss über den Wolken, und das Trollmädchen sprach von Mädchen mit Schwefelhölzern, die erfroren und zu Sternschnuppen wurden.
Aber das Trollmädchen mit seinen scharfen Augen entdeckte sie unten auf der Treppe und vertrieb sie mit harten Fäusten.
Dann kam der Tag, an dem Schielauge sich zum ersten Mal an der Prinzessin vergriff. Da schlug ihm das Trollmädchen mit einem Stein auf den Kopf. Er ließ von der Prinzessin ab und wollte sich auf das Trollmädchen stürzen, das in die hinterste Ecke des Schuppens flüchtete.
Und sie hatte alles mit angesehen und wusste, dass es eines Engels Pflicht war, zu helfen und zu beschützen. Darum folgte sie ihnen in den Geräteschuppen und sah, dass sich Schielauge ein Messer gegriffen hatte und das Trollmädchen mit erhobener Klinge umkreiste.
»Du sollst nicht töten«, sagte sie mit ihrer hohen, klaren Engelsstimme, und Schielauge sah wütend in ihre Richtung.
»Verschwinde«, sagte er.
Aber Engel stehen den Menschen in der Not bei, auch einem wie dem Trollmädchen, deshalb kam sie noch ein Stück näher.
»Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange leben wirst auf Erden«, sagte sie.
»Meine Mutter ist tot, und der Alte ist im Säuferheim, deshalb bin ich ja in diesem Loch hier«, sagte Schielauge, und seine Stimme brach.
»Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten«, sagte der Engel, trat vor und griff nach dem Messer.
Schielauge schluchzte, ließ das Messer los und rannte zur Tür hinaus.
Stille kehrte ein, als der Junge verschwunden war. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen. Das Trollmädchen starrte sie an, und plötzlich wurde der Engel ganz schüchtern.
»Du sollst Gott den Herrn fürchten und ehren und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das sagt Jesus.«
Das Trollmädchen kam auf sie zu, ihre Augen wurden schmal.
»Bist du ein bisschen krank im Gehirn?«
Der Engel schüttelte den Kopf.
Von diesem Tag an durfte sie das Trollmädchen und die Prinzessin überall auf dem Hof begleiten. Zwar wollten Vater und Mutter nicht, dass sie bei der Aussaat und der Heuernte half, doch sie hielt es mit Gott und sagte, dass der Mensch sich sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen müsse, und sie ließen sie gewähren. Zusammen wirbelten sie durch Wald und Heide, teilten Freud und Leid, und der Engel erfuhr von neuen Welten, in denen es einen großen Mann gab, der einen schlimmen Krieg verloren hatte, und von kalten Nächten in feuchten Kellern, wo betrunkene Männer Schnaps und Liebe kauften. Ja, sie unternahmen alles gemeinsam, sommers wie winters, im Herbst wie im Frühling, bis zu dieser Nacht im August, als das Schreckliche geschah und das Trollmädchen und die Prinzessin für immer von Gudagården verschwanden und des Engels lange Reise in die Unterwelt ihren Anfang nahm.
---- Agenturmeldung ----
NEWSFLASH : Filip Andersson freigesprochen.
Pressekonferenz: Kanzlei Sven-Göran Olin, Skeppsbron 28,
10.30 Uhr.
(Presseagentur TT)
Dienstag, 14 . Juni
Es wollte einfach nicht Sommer werden. Das Laub an den Bäumen war kaum größer als Mäuseöhrchen, obwohl es schon Mitte Juni war. Nicht einen milden Tag hatte es bisher gegeben. Die Nordwinde hielten das Land stahlhart im Griff, und die Meteorologen konnten keine Aussicht auf Besserung melden.
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