Kalter Süden
Annika. Sie war niemals in einem Konzentrationslager interniert gewesen. Im Gegenteil, sie war die Tochter eines Nazioffiziers von so hohem Rang, dass die Familie den Berghof zumindest gelegentlich besucht hatte. Ihre jüdische Herkunft war im Nachhinein von den Leuten konstruiert worden, die sie »Onkel« und »Tante« nannte. Wer waren sie? Annika hatte nie Deutsch gelernt, aber Onkel und Tante, das klang für sie wie eine Art Verwandtschaftsbezeichnung. Waren Gunnar und Helga entfernte Verwandte, die sich ihrer nach dem Krieg angenommen hatten? Die fanden, dass es schöner und edelmütiger war, eine arme Jüdin aufzunehmen, die das Konzentrationslager überlebt hatte, als die Tochter eines hochrangigen Nazioffiziers?
Aber warum hatte sie ihrem Sohn diese durch und durch jüdischen Namen gegeben? David Zeev Samuel? Wollte sie damit eine Art psychologischer Schuld wiedergutmachen?
Vielleicht hatte aber auch der Vater des Jungen die Namen gewählt, jener abwesende Herr Lindholm. Möglicherweise war er ja Jude gewesen …
Hannelore Lindholm wiegte langsam den Oberkörper hin und her.
Annika setzte sich unwillig auf dem Sessel zurecht.
»Können Sie mir von Siv erzählen?«, bat sie.
Die alte Dame hielt inne. Sie richtete sich auf, ihre Schultern entspannten sich, und ihre Arme sanken herab. Ihr Blick klärte sich, und sie sah Annika an.
»Ist Siv hier?«, fragte sie.
»Nein«, entgegnete Annika. »Sie ist in Sörmland.«
Hannelore schien sich mit der Antwort zufriedenzugeben. Sie nickte zustimmend und ein wenig besorgt.
»Es ist schade um Siv«, sagte sie.
»Warum?«
Hannelore Lindholm beugte sich zu Annika herüber.
»Sie lässt sich hereinlegen. Sie glaubt wirklich an Gott und das Himmelreich und all das, was Onkel Gunnar predigt. Als ich neu auf dem Gudagården war, glaubte sie, sie sei ein Engel. Das hatte Tante Helga ihr eingeredet. Wie dumm!«
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf.
Annika überlegte.
Hannelore Lindholm schien keine Schwierigkeiten damit zu haben, sich an Dinge aus ihrer Kindheit zu erinnern. Als wäre sie dort geblieben. Sie sagte vermutlich die Wahrheit.
Die Mädchen hatten zusammen auf irgendeinem Hof gelebt, wahrscheinlich in Sörmland, Hannelore sprach ja denselben Dialekt wie sie. Sie hatten eine gemeinsame Kinderzeit durchlebt, hatten gemeinsam Erfahrungen gesammelt. Irgendein Ereignis aus dieser Zeit verband die drei so eng, dass sie auch noch als Erwachsene den Kontakt aufrechterhalten hatten.
»Was ist auf dem Gudagården passiert?«, fragte Annika und beobachtete die Reaktion der Frau genau.
Hannelore Lindholm blinzelte.
»Passiert?«
»Wann sind Sie dort weggezogen?«
Hannelore Lindholm erhob sich so schnell vom Sofa, dass der kleine antike Tisch umfiel. Sie ging ans Fenster und begann wieder an ihrer Topfpflanze herumzuzupfen. Hart und ruckartig.
Die Frage hatte sie anscheinend aufgeregt. Annika ging ihr nach und legte ihre Hände auf die der alten Dame.
»Kommen Sie, setzen Sie sich doch noch ein bisschen zu mir. Wir unterhalten uns über Astrid und Siv.«
Die Puppenaugen wandten sich Annika zu.
»Ist Astrid da?«, fragte Hannelore.
Annika führte sie zurück zum Ledersofa.
»Ich möchte über Torsten reden«, entschied Annika.
»Torsten ist nicht hier«, sagte Hannelore, und ihre Augen wurden schwer.
»Ja, das weiß ich«, sagte Annika. »Er ist in Marokko. Was macht er dort?«
Hannelore fingerte an ihrem Kleid herum. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie sagte nichts.
»Fährt Torsten häufig nach Marokko? Was macht er dort? Wissen Sie das?«
Hannelore begann zu singen, monoton und unverständlich, vielleicht auf Deutsch.
»Wollen Sie nicht, dass wir über Torsten sprechen? Hat er Sie traurig gemacht?«
Sie hörte auf zu singen.
»Torsten ist nicht mehr nach Hause gekommen«, erklärte sie. »Er ist auf die Farm gefahren und nie mehr wiedergekommen.«
Auf der Farm gibts kein Netz, deshalb konnte ich nicht mailen.
»Wo liegt die Farm?«, fragte Annika. »Wer wohnt dort?«
Hannelore Lindholm starrte stur geradeaus, ohne sich zu bewegen.
Annika wartete.
Lange blieb sie still sitzen und versuchte zu verstehen, wie weit Hannelore Lindholms Erinnerungsvermögen reichte.
Julia hatte gesagt, dass sie ins Heim kam, nachdem Torsten verschwunden war. Die alte Dame schien sich noch zu entsinnen, dass er von seiner letzten Reise nicht zurückgekehrt war. Wie lange mochte das her sein? David war damals noch ein Teenager gewesen und wäre inzwischen
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