Kalter Süden
dreiundvierzig. Es war also gute fünfundzwanzig Jahre her, Hannelore war ungefähr Mitte vierzig gewesen. Vielleicht reichte ihre Erinnerung bis zu diesem Punkt.
Er ist auf die Farm gefahren und nie mehr wiedergekommen.
»Ist David auch in Marokko?«
Hannelore Lindholms Miene hellte sich auf.
»Nein, nein«, sagte sie. »Er kommt mich bald abholen, und dann fahren wir nach Hause.«
Sie stand auf und ging an den Bücherschrank, öffnete eine Tür und begann die Bücher auf dem Boden zu stapeln.
»Hannelore«, sagte Annika. »Kommen Sie, setzen Sie sich doch wieder. David ist nicht hier. Wir müssen noch eine Weile warten.«
Die Frau zögerte, dann nickte sie und überließ die Bücher auf dem Boden ihrem Schicksal.
»David hat es nicht leicht«, sagte sie. »Alle anderen Kinder haben einen Papa.«
Annika brachte Hannelore dazu, sich wieder zu setzen, dann nahm sie neben ihr auf dem Sofa Platz.
»Warum hat David keinen Papa?«, fragte Annika.
Die Frau zupfte ängstlich an ihrer Strickjacke herum.
»Sie haben sich gestritten. Er hat Astrid angeschrien. Kommt David nicht bald? Er sollte längst hier sein.«
Vom Korridor waren Schritte und Stimmen zu hören. Die Geräusche von Essenwagen und klapperndem Geschirr. Sie fasste sich ein Herz und sah Hannelore Lindholm geradeheraus an.
»Können Sie mir von Fatima erzählen?«
Die alte Dame sah sie fragend an.
»Wer ist das?«
Annika wartete ein paar Sekunden mit ihrer Antwort.
»Fatima ist auf der Farm. Mit Amira.«
Hannelores Blick zuckte.
Annika wartete noch einen Augenblick, dann fragte sie:
»Können Sie mir von Julia erzählen?«
Die Hände der alten Frau strichen über das Kleid.
»Erinnern Sie sich an Alexander? Davids Sohn?«
Es klopfte an der Tür, und Oberschwester Barbro steckte den Kopf herein.
»Wie geht’s?«, erkundigte sie sich und sah Annika neugierig an.
»Wir unterhalten uns«, gab Annika ziemlich scharf zurück. »Wir würden es bevorzugen, unter uns zu sein.«
Barbro betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Es ist Zeit für die Medikamente«, sagte sie und schloss ein Schränkchen in Hannelores Badezimmer auf.
»Ich will keine Medizin«, protestierte Hannelore Lindholm. »Ich werde ganz wirr im Kopf davon.«
Die Oberschwester nahm etwas aus dem Schrank und ging zur Pantryküche.
»Sie sollen doch die Blumenabfälle nicht in den Ausguss werfen«, sagte sie langsam und deutlich. »Vergessen Sie nicht, dass wir später hinter Ihnen herputzen müssen.«
Die Oberschwester füllte ein Glas mit Wasser und trat zu ihnen.
Hannelore Lindholm seufzte, nahm die Pillen entgegen und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.
»Na bitte, das ging doch ganz leicht«, sagte Barbro mit ihrer lauten Schwerhörigen-Stimme.
Sie wandte sich an Annika.
»Ich möchte Sie bitten, Ihren Besuch jetzt zu beenden«, sagte sie. »Hannelore muss sich ausruhen.«
Annika schaute auf die Uhr. Es war ohnehin höchste Zeit, zurückzufahren.
Hannelore setzte sich mit einem resignierten Blick aus ihren Puppenaugen aufs Bett. Annika folgte ihr und nahm ihre Hand.
»Danke für den netten Plausch«, sagte sie.
Hannelore Lindholm sah sie erstaunt an.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
Annika tätschelte der alten Dame die Hand, schulterte ihre Tasche und hob die Jacke auf.
»Julia und Alexander lassen grüßen«, sagte sie. »Sie kommen Sie bald besuchen.«
Hannelore Lindholm blickte zum Fenster und schien sie gar nicht zu hören.
Es hatte angefangen zu regnen. Annika lief zum Auto und bemerkte, dass sie vergessen hatte abzuschließen. Sie warf sich auf den Fahrersitz und ihre Tasche daneben.
Sie nahm ihr Handy heraus und schaute auf das Display. Ein Anruf in Abwesenheit. Von Patriks Mobiltelefon.
Der Nachrichtenchef musste warten.
Sie schloss die Augen und dachte nach. Der Regen trommelte aufs Autodach und rann in Sturzbächen am Fenster hinunter.
Hannelore, Astrid und Siv waren gemeinsam auf einem Hof namens Gudagården in Sörmland groß geworden. Der Herr des Hauses hieß Gunnar und scheute sich nicht, Kinder zu schlagen. Hannelore war Kind von Nazis und mit den Leuten auf dem Hof verwandt. Die mussten ihrerseits Heuchler der Sonderklasse gewesen sein, wenn man bedachte, wie sie dem kleinen Mädchen all diese Lügen über seine Vergangenheit einbläuten.
Später hielten die Mädchen weiter Kontakt. Auch ihre Kinder wuchsen wie Geschwister auf: David und Filip, Yvonne und Veronica und schließlich die kleine Nina.
Sie startete
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