Kalter Süden
nickte nachdrücklich.
»Man muss nicht Klassenbeste sein«, sagte sie. »Ich helfe Zine und Ahmed, das sind der Verwalter und sein Sohn.«
»Fand Oma Astrid es auch okay, dass du mit Pferden arbeiten möchtest?«
Das Nicken wurde noch nachdrücklicher.
»Na klar. Sie ist ja selbst auf einem Bauernhof groß geworden, aber dort hat man sie nicht gut behandelt.«
Annika lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.
»Hat deine Großmutter dir erzählt, wie es ihr als Kind ergangen ist?«
Suzette legte sich wieder aufs Sofa und ließ die Beine über die Armlehne baumeln.
»Manchmal. Das waren ziemlich traurige Geschichten …«
Sie sprang plötzlich auf.
»Wissen Sie was?«, rief sie. »Es gibt ein Buch über Oma und ihre Freundinnen.«
Sie wirbelte herum und lief zu einem der Bücherregale in der Ecke hinter dem Frühstückstisch.
»Ein Buch?«, fragte Annika, drehte sich auf dem Sofa um und folgte ihr mit dem Blick.
»Ähm …«, sagte Suzette und ließ die Hände über die Buchrücken gleiten. »Das stand doch hier irgendwo … da ist es!«
Sie hielt ein dünnes, geheftetes Buch hoch. Es hatte einen weißen Umschlag ohne Bild oder anderen Schmuck, nur mit Titel und Autorennamen.
»Sie haben hier alle Bücher mit Pippi und Michel und Gulla und so weiter«, erzählte Suzette, »aber das hier ist fast das einzige Erwachsenenbuch.«
Sie reichte es Annika.
»Ich habe es gelesen. Es ist ziemlich seltsam.«
Annika starrte auf das Buch.
Ein Platz an der Sonne
von
Siv Hoffman
»Hast du das hier gefunden? Im Bücherregal?«
Sie schlug die erste Seite auf. Gedruckt vor zwanzig Jahren bei Författeres Bokmaskin. Ninas Mutter hatte offenbar schriftstellerische Ambitionen gehabt.
»Das stand da, wo ich es eben rausgezogen habe. Die Bücher sind nicht geordnet, nicht so wie in der Schulbibliothek. Alles steht irgendwie durcheinander …«
Es klapperte im Türschloss, und Annika und Suzette erstarrten. Annika zog den Bauch ein und steckte sich das Buch rasch hinter den Jeansbund, dann ließ sie ihr Oberteil wieder darüberfallen und hoffte, dass man nichts sah.
Der junge Mann namens Ahmed betrat mit gezogener Waffe die Bibliothek. Er riss die Augen auf und schrie Suzette auf Arabisch an, die blitzschnell an ihm vorbeihuschte und hinauslief.
»Allez!« , befahl er Annika zornig. »Dépêchez-vous!«
»Ja, ja«, murmelte sie. »Ich beeile mich ja schon.«
Es war jetzt deutlich kühler im Zimmer. Jemand musste gelüftet haben. Es war also doch irgendwie möglich, dieses Fenster zu öffnen. Jemand hatte ihr auch eine Kanne Wasser und ein Glas auf den Schreibtisch gestellt.
Die Schritte verklangen im Korridor. Annika zog das Buch aus der Jeans und legte es auf die Decke. Dann ging sie in die Hocke und schaute unters Bett.
Derselbe Jemand hatte den Nachttopf geleert und ausgespült.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und griff zu Block und Stift.
Rasch schrieb sie auf, was Suzette ihr berichtet hatte, und ergänzte es durch ihre eigenen Eindrücke und Schlussfolgerungen.
Fatima hatte Suzette heimlich abgeholt. Sie musste also gewusst haben, dass etwas im Gange war, und aus irgendeinem Grund hatte sie Suzette von der Costa del Sol entfernen wollen, ohne dass es jemand mitbekam.
Vielleicht, weil sie das Mädchen gernhatte. Weil Suzette die beste Freundin ihrer Tochter war. Oder hatte sie andere, weniger edle Motive? War Suzette eine Geisel? Und wenn ja, wogegen sollte sie ausgetauscht werden? Und durch wen?
Ihr nächster Gedanke ließ sie stocken.
Wenn Fatima gewusst hatte, dass Suzette gerettet werden musste, dann hatte sie auch gewusst, dass die Familie Söderström in Gefahr war.
Vielleicht war sie selbst in die Morde verwickelt oder hatte sie sogar befohlen?
Auf einmal schienen die Wände näher zu rücken.
Annika ließ den Stift fallen, sprang auf und rüttelte an der Tür, die natürlich nach wie vor abgeschlossen war.
Was, wenn man sie hier nicht mehr rausließ?
Was, wenn man sie für alle Ewigkeit hierbehielt?
Wer wusste, wo sie sich befand?
Niemand, außer dem Taxifahrer Muhammed aus Tanger.
Sie merkte, wie sich ihr Hals zuschnürte und die klassischen Anzeichen einer aufsteigenden Panik sich meldeten: der Tunnelblick, das Kribbeln in den Fingern, die heillose Angst.
Sie tastete sich zum Bett vor und legte sich auf die Seite.
Ich bin nicht in Gefahr, beruhigte sie sich. Wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie es längst getan. Sie hätten mich gar nicht erst
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