Kalter Süden
reingelassen. Fatima mag ja Rauschgiftproduzentin sein, aber sie ist keine Mörderin. Deshalb hat sie auch Suzette geholt, Fatima sind die Menschen nicht gleichgültig …
Sie lag ganz still und konzentrierte sich eine ganze Weile nur darauf, ganz normal ein- und auszuatmen.
Diese Panikattacken sollte sie eigentlich längst überwunden haben.
Sie stand vorsichtig auf und ging zum Fenster. Es war noch immer verschlossen.
Draußen war niemand zu sehen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, schwarze Wolken waren vom Atlantik herangezogen. Es sah nach Regen aus.
Sie ließ den Blick über die Hausfassade wandern.
Das oberste Stockwerk, in dem sie sich jetzt befand, war spartanischer eingerichtet als der Rest des Hauses, was darauf hindeutete, dass dies das Dienstbotengeschoss war oder ein extra Stock.
Das mittlere Stockwerk schien die Gemeinschaftsräume zu beherbergen. Vom Erdgeschoss hatte sie keine richtige Vorstellung, es war dunkel gewesen, als sie ankam, aber von außen hatte es viel schlichter gewirkt als die oberen Etagen. Auf dem Weg nach Asilah hatte sie ähnliche Höfe gesehen. Vielleicht war das die Art, wie man in Marokko baute. Man begann mit einem einfachen Erdgeschoss und stockte auf, wenn die Finanzen es zuließen.
Das Haus war riesig, bestimmt tausend Quadratmeter groß. Teilweise war es sehr kostbar eingerichtet. Das hier war eine wohlhabende Plantage, Fatima war eine Hanffarmerin der oberen Liga, so viel stand fest.
Annika drehte sich um. Auch im Zimmer wurde es jetzt langsam immer dunkler.
Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, hob den Stift vom Boden auf, und begann die Bewohner der Farm aufzulisten.
Wie viele Leute wohnten hier?
Zunächst einmal Fatima und ihre drei Töchter: Maryam, Sabrina und Amira. Maryam war mit Abbas verheiratet und hatte zwei kleine Söhne. Vielleicht waren das die drei Personen, die sie am Morgen vom Fenster aus gesehen hatte. Sabrina studierte in Boston, sie war also jetzt nicht hier. Verwalter Zine und sein Sohn Ahmed mussten die Männer mit den Waffen sein.
Außerdem gab es Bedienstete, die Nachttöpfe leerten und auf den Feldern arbeiteten. Der Verwalter Zine musste ja Leute haben, die er beaufsichtigen konnte.
Sie legte den Stift hin und setzte sich aufs Bett. Beugte sich zum Fußende und griff nach dem Buch aus der Bibliothek, Siv Hoffmans Werk Ein Platz an der Sonne . Sie zog das Kopfkissen unter dem Bettüberwurf hervor und lehnte es an die Wand, um eine Rückenstütze zu haben.
Dann schlug sie das erste Kapitel auf und begann zu lesen.
Und während sie Die Prinzessin im Schloss über den Wolken , Das Trollmädchen mit den Schwefelhölzern , Der Engel vom Gudagården , Der Sturz aus den Himmeln , Der Tod am Strand und all die anderen seltsamen Geschichten las, peitschte der Atlantikregen gegen die Scheiben, und der Wind zerrte und riss an den Feldpflanzen rund um den Hof.
Am Nachmittag kam das Gewitter.
Es war so dunkel im Zimmer geworden, dass sie die kleine Kerze anzünden musste, um die Geschichte zu Ende lesen zu können.
Sie blätterte die letzte Seite um, schlug das Buch zu und wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Konnte es sein, dass das wirklich passiert war, oder war das nur eine fiktive Geschichte mit literarischem Anspruch?
Ein Blitz mit darauffolgendem Donnerknall ließ sie hochfahren. Sie stellte sich ans Fenster und schaute hinüber zu den Bergen. Sie waren vollkommen schwarz. Die Blitze jagten über den Himmel, es donnerte und knallte.
Was sollte sie tun, falls einer davon einschlug und ein Feuer ausbrach?
Sie erinnerte sich an die brüllenden Flammen hinter der Schlafzimmertür ihres Hauses in Djursholm, wie sie das Fenster aufgerissen und die Kinder am Bettzeug herabgelassen hatte. Hier war sie eingesperrt wie eine Ratte in einem Schuhkarton.
Ein Millionenwattblitz, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag, ließ das ganze Haus erzittern und warf sie beinahe um. Sie schrie auf vor Schreck, lief die drei Schritte zur Tür und riss an der Klinke. Im Haus war es stumm und still wie in einem Tresorraum.
Sie rannte zurück zum Fenster und besah sich den Schließmechanismus der französischen Balkontüren ganz genau. Sie gingen nach außen auf. Das Schloss befand sich im Handgriff, in der Mitte der Türflügel, auf Taillenhöhe. Sie drückte fest dagegen, aber die Flügel bewegten sich keinen Millimeter.
Sie schaute hinunter in den Hof. Die Lichter waren erloschen. Der Strom war ausgefallen.
Sie schluckte und versuchte,
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