Kalter Süden
sie so weit kam. Der Stall war viel näher, aber dann müsste sie den ganzen offenen Hof überqueren, und sie wusste nicht, ob die Stalltüren abgeschlossen waren.
Ein Kind schrie herzzerreißend drinnen im Haus. Sie blickte zur offenen Tür.
Aus dem ersten Stock fiel ein schwacher Lichtschein.
Schwankend rappelte sie sich auf. Nur wenige Meter von ihr entfernt lag einer der erschossenen Männer und starrte in den Himmel. Der Regen lief über seine toten Augen.
Sie humpelte vorsichtig zu ihm hinüber. Das Knirschen der Kieselsteine ging im Rauschen der Wasserkaskaden unter. Sie erkannte diese Augen wieder. Hell, fast weiß. Sie hatten sie hämisch angelacht, während er ihr den linken Zeigefinger zerschnitt.
Neben dem Mann lag seine Waffe, eine Art Maschinengewehr, wie sie es bisher nur in amerikanischen Actionfilmen gesehen hatte. Sie hob es auf, es war erstaunlich schwer.
Ahmed lag gut zehn Meter weiter. Sein halber Schädel war weggesprengt. Annika wandte den Blick ab.
Im Leuchten eines Blitzes sah sie hinten am Tor eine Bewegung. Sie erstarrte und spähte durch den Regenvorhang angestrengt zur Maueröffnung.
Da sah sie es wieder. Sie war sich ganz sicher: Ein Mensch war an dem zerstörten Tor vorbeigehuscht.
Die Knie gaben unter ihr nach und sie ließ das Gewehr fallen, o Gott, o Gott, wenn sie mich nur nicht erschießen.
Auf allen vieren kroch sie zur Hauswand, dort erhob sie sich und rannte geduckt auf die Haustür zu. Das Adrenalin rauschte in ihren Ohren.
An der Eingangstür blieb sie stehen, spähte in die Halle, sah nichts, warf sich in die Dunkelheit des Hausinneren und presste sich mit dem Rücken an die Wand. Sie rutschte nach unten in die Hocke und atmete so laut, dass es durchs ganze Haus hallte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, damit sie niemand hörte. Der Donner rollte. Das Kind weinte. Annika spähte durch die Türöffnung nach draußen, konnte aber niemanden entdecken.
Hier konnte sie nicht bleiben.
Sie kam hoch und versuchte, den Fuß zu belasten, es tat verdammt weh, aber es ging.
So leise wie möglich bewegte sie sich auf wackligen Beinen weg von der Haustür. Sie stützte sich auf das Treppengeländer, um sich auszuruhen, und schaute hinauf.
Die Stimmen kamen aus einem der oberen Räume. Sie hörte eine männliche und eine weibliche Stimme. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber die Satzmelodie klang englisch.
Sie tastete sich ein paar Stufen aufwärts.
»You emptied the accounts in Gibraltar. Where is the money?«
Der Mann schrie die Frage beinahe.
»Ja, ich habe die Konten geleert«, antwortete Fatima, und ihre Stimme war belegt vor Angst. »Ich habe vor den Razzien in Algeciras gewarnt, aber Astrid wollte nicht auf mich hören. Mir war klar, was passieren würde. Also habe ich gerettet, was ich retten konnte.«
Annika machte noch ein paar Schritte.
»Du hast uns übers Ohr gehauen«, sagte der Mann. »Du wolltest uns zwingen, deine Vertriebskette zu benutzen, zu deinen grotesken Wucherpreisen, und als Astrid sich weigerte, hast du dafür gesorgt, dass wir auffliegen.«
Jetzt erkannte sie die Stimme wieder.
Es war die von Filip Andersson.
Annika zog sich die letzten Stufen am Geländer hoch. Der Flur im ersten Stock lag im Dunkeln. Die Stimmen kamen aus dem Raum neben der Bibliothek, in der sie gefrühstückt hatte. Sie blickte auf den dunklen Teppichläufer zu ihren Füßen, der sich durch die ganze Halle fortzusetzen schien.
»Die Polizei hatte euch schon die ganze Zeit unter Beobachtung«, sagte Fatima. »Ich habe Astrid gewarnt, aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie sagte, sie hätte keine andere Wahl.«
Die Tür stand einen Spalt offen, und ein schwacher Lichtstreifen fiel in die Halle. Annika schlich an der Wand entlang und spähte durch die Ritze zwischen Türblatt und Rahmen.
Der Raum war ein großer Salon. Filip Andersson stand mit dem Rücken zur Tür. Ein weißer Hemdkragen ragte aus seiner schwarzen Windjacke hervor. Unter seinen Schuhen hatte sich eine Wasserpfütze gebildet.
»Sie stand mächtig unter Druck, allerdings!«, rief Filip Andersson wütend. »Sie hatte sich von unseren Konten bedient, um diesen verdammten Tennisclub zu finanzieren!«
Annika bewegte sich vorsichtig, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Der Raum war sparsam erleuchtet, sie sah einen Kerzenständer mit Wachskerzen und zwei Öllampen. Am anderen Ende des Salons erkannte sie Fatima, sie saß auf einem geblümten Chintzsofa und hatte einen kleinen Jungen auf
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