Kalter Süden
einmal sah sie einen Stern herabfallen.
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in dem Märchen hatte auch einen Stern fallen sehen.
»Die alte Großmutter, die sie allein freundlich behandelt hatte, jetzt aber längst tot war, hatte gesagt: ›Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor … ‹«
Sie fragte sich, wer diesmal wohl in den Himmel hinaufstieg, und sie faltete die Hände und betete zum lieben Gott: »Vater im Himmel, mach, dass es nächstes Mal der Pflegevater ist und danach Schielauge.«
Und sie dachte, dass sie eines Tages selber eine Großmutter sein würde, eine, die lieb zu Trollmädchen war, die niemand mochte.
Aber als die Zeit verging und die Dunkelheit und die Kälte kamen, als die Ernte eingebracht werden sollte und sie glaubte, der Rücken müsse ihr zerbrechen, da veränderten sich ihre Gebete.
Vater im Himmel, lass es mich das nächste Mal sein.
So betete sie bis zu dem Tag, an dem die Prinzessin nach Gudagården kam.
Es war ein herrlicher Tag. Das Trollmädchen hatte noch nie eine solche Schönheit gesehen.
Die Prinzessin hatte blonde Locken, die sich bis zur Taille ringelten, und ein hellblaues Kleid, das ihr um die Waden tanzte, und eine Puppe im Arm, so zart wie eine Elfe.
Aber der Pflegevater, der die Versuchungen Satans in allem sah, was rein und lieblich und schön war, riss dem Mädchen das Kleid he-
runter und nahm ihren Mantel mit dem Lederkragen und ihre schöne Puppe und übergoss alles mit Petroleum, und während die Flammen hoch in den Herbsthimmel schlugen, schrie er, dass der Sünder in der Hölle brennen solle.
Das Trollmädchen stand ganz hinten und betrachtete verwundert die Verzweiflung der Prinzessin. Sie lag in Unterhemd und Schlüpfer auf dem Hofplatz, ihre Haare hingen auf den groben Kies, und sie weinte so sehr, dass es sie schüttelte, bis Schielauge hinging und ihr einen Tritt gab und die Pflegemutter sie am Arm hochzerrte und mit sich ins Haus zog.
Sie stellten ein weiteres Bett in der Dachkammer auf.
Die Prinzessin sah ängstlich das Trollmädchen an und sagte in einer unverständlichen Sprache etwas zur Pflegemutter, und die antwortete in derselben Sprache.
Dann trat die Pflegemutter mit ihrem Steingesicht zum Trollmädchen und sagte:
»Du lässt sie in Ruhe, verstanden? Du bist ja ein bisschen dumm im Kopf, und sprechen tust du auch nicht.«
Aber schon in der ersten Nacht kroch das Trollmädchen zur Prinzessin und wärmte sie, als sie am ganzen Leib zitterte, und sie erzählte ihr die Märchen, die Sigrid sie gelehrt hatte: von dem Hässlichen Entlein und Däumelinchen und dem Mädchen mit den Schwefelhölzern, und die Prinzessin lag mit großen, glänzenden Augen da und lauschte, und auf diese Art lernte sie Schwedisch.
Beschluss des Obersten Gerichtshofs
Aktenzeichen Ö 3490–11
Verkündet zu Stockholm, den 26. April
Antragsteller und Klageführer
Filip Andersson
Rechtsbeistand: Rechtsanwalt Sven-Göran Olin
Gegenseite
Staatsanwaltschaft
Sache
Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Mordes u.a.
Entscheidung des Obersten Gerichtshofs
Der Oberste Gerichtshof bewilligt eine Revision des Urteils
Ö 9487–01 des Oberlandesgerichts Svea und ordnet eine
Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Oberlandes-
gericht an.Der Oberste Gerichtshof verfügt, dass die
Vollstreckung des Urteils bis zum Abschluss des Wieder-
aufnahmeverfahrens außer Kraft zu setzen ist.
Dienstag, 26 . April
Der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
Annika stand in der Küche am Herd und rührte in einem Stieltopf mit Kakao. Im Backofen lagen zwei Scheiben Toast mit Tomate und Käse und grillten vor sich hin, eine mit Schinken und eine ohne. Der Käse brutzelte unheilverkündend, sie zog den Topf vom Cerankochfeld und öffnete den Backofen.
Noch dreißig Sekunden.
Sie schälte zwei Mandarinen und öffnete zwei kleine Becher Joghurt mit Kokosgeschmack. Nahm das Blech mit den Grilltoasts heraus, legte sie auf zwei Teller und garnierte sie mit Obst und Joghurt. Schließlich stellte sie die Teller auf den Küchentisch, goss den heißen Kakao in zwei Becher, einen roten und einen blauen, und ging durch das fensterlose Wohnzimmer zu den Zimmern der Kinder.
Ellen hatte immer noch den Daumen im Mund, wenn sie schlief. Thomas machte sich ernsthafte Sorgen deswegen, er meinte, sie werde später eine Zahnspange brauchen, aber Annika sah keinen Grund, sich deswegen aufzuregen. Wenn die Kinder ins Teenageralter kamen, würden sie mit wesentlich schwerwiegenderen
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