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Kalter Süden

Kalter Süden

Titel: Kalter Süden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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Ostern

Das Trollmädchen mit den
Schwefelhölzern
    Sie kam ohne Schuhe und in einem zerrissenen Kleid nach Gudagården. Die Frau von der Jugendfürsorge schubste sie aus dem Auto, die Kieselsteine auf dem Hofplatz waren scharf wie Glas unter ihren Füßen.
    »Mach einen Knicks vor deinen Pflegeeltern«, befahl die Frau und schob sie vor sich her auf die Menschenwand zu.
    Sie starrte auf die Erde. Die Menschen starrten auf sie.
    »Sie sieht aus wie ein Troll«, stellte die Pflegemutter fest.
    Die Frau trat ihr in die Kniekehlen und drückte ihren Nacken nach unten. Blitzschnell wirbelte sie herum und biss der Frau in die Hand, dann rannte sie über den Kies davon, dass die Haut unter ihren Fußsohlen aufplatzte.
    Als es Nacht geworden war, zog der Pflegevater sie vom Heuboden herunter. Sie schlug mit der Hüfte hart auf den Steinboden.
    »Aus dir werden wir den Teufel schon noch rausprügeln«, sagte er und hob die Reitgerte.
    Und er schlug zu und schlug und schlug, bis die Haut auf ihren Schenkeln und auf den Pobacken voll blutiger Striemen war, und dann verriegelte er die Tür. Sie schlief im Heu ein und träumte, sie läge in einem Ameisenhaufen. Die Krabbeltiere fraßen sich in ihre Beine und den Po, sie bauten Gänge unter ihrer Haut, ein ganzes Dorf mit Wegen und Vorratskammern und Kinderzimmern und allem anderen, was Ameisen brauchten, wie Sigrid es ihr in ihren Schilderungen vom phantastischen Leben der Ameisen erzählt hatte.
    Als sie aufwachte, war es schon hell. Das Heu klebte am blutigen Schorf auf ihren Beinen. Sie wusste, dass sie baden musste.
    Sie entdeckte ein loses Brett in der Wand auf der Rückseite des Heuschobers. Die Lücke war so schmal, dass sie kaum den Kopf durchstecken konnte, aber ihr Körper glitt hindurch wie ein kleiner Wurm.
    Vom Autofenster aus hatte sie einen See gesehen. Er musste ganz in der Nähe sein.
    Sie schlug einen weiten Bogen um den Bauernhof. Es war kein Mensch zu sehen.
    Sie fand einen kleinen Strand mit weißem Sand unter einer großen Eiche. Sie behielt Kleid und Schlüpfer an, während sie badete. Ihre Beine brannten wie Feuer.
    Ein schielender Junge entdeckte sie, als sie sich auf den Hof zurückschlich. Er rief nach dem Pflegevater, der angerannt kam, dass die großen Stiefel nur so schlappten. Er war schnell, und sie war schwach vor Hunger und Schmerzen.
    Er riss ihr das Kleid herunter und peitschte ihr auch noch die Haut vom Rücken.
    »Du wirst nie, nie, nie wieder von diesem Hof weglaufen«, sagte ihr der Pflegevater ins Ohr. »Wenn du das noch einmal versuchst, schlage ich dich tot.«
    Aber sie lief weg, und er schlug sie, und sie lief weg, und er schlug sie.
    Schließlich wurde er es müde, sie zu schlagen, und da hörte sie auf wegzulaufen.
    Sie bekam eine Kammer auf dem Dachboden mit jungen Schwalben und einem Wespennest. Schon im Morgengrauen begannen Schwalbenmutter und Schwalbenvater, ein und aus zu fliegen, um Futter für ihre Jungen herbeizuschaffen, sie sammelten das Futter in ihrem Schnabel und ihrem Magen, und dann würgten sie es für ihre Jungen hervor. Das hatte Sigrid ihr vom phantastischen Leben der Vögel erzählt.
    Sigrid hatte ihr auch Märchen erzählt. Sie hatte von anderen Mädchen erzählt, die es auch schwer hatten, wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern.
    »Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten zierlichen Füßchen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In ihrer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und ein Bund hielt sie in der Hand. Während des ganzen Tages hatte ihr niemand etwas abgekauft, niemand ein Almosen gereicht. Hungrig und frierend schleppte sich die arme Kleine weiter und war schon ganz verzagt. Die Schneeflocken fielen auf ihr blondes Haar, das schön gelockt über ihren Nacken fiel, aber bei diesem Schmucke weilten ihre Gedanken wahrlich nicht …«
    Das Mädchen hatte keine blonden Locken. Sie hatte schwarze, widerspenstige Haare, die ihr von der Jugendfürsorge abgeschnitten worden waren, ganz, ganz kurz, damit sie die Läuse loswurde.
    Sie war kein süßes Mädchen, sie war ein Trollmädchen, das wusste sie, denn das hatte die Pflegemutter gesagt. Sie war das Trollmädchen mit den Schwefelhölzern. Obwohl sie eigentlich keine Schwefelhölzer verkauft hatte, sondern schwarzgebrannten Schnaps, und das war so gut gelaufen, bis Mama eines Tages ins Zuchthaus gesteckt wurde und die Jugendfürsorge kam und sie holte.
    In den Nächten konnte sie durch einen Spalt im Dach hinausblicken, und

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