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Kalter Süden

Kalter Süden

Titel: Kalter Süden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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und steckte den Daumen in den Mund. Annika spürte, wie die Wirklichkeit in die Küche Einzug hielt, und drückte das Mädchen fester an sich, um die Illusion von Wärme und Liebe aufrechtzuerhalten.
    »Papa holt euch nachher ab«, sagte sie. »Er bleibt heute Abend bei euch zu Hause, und wenn ihr euer Abendbrot schnell aufesst, könnt ihr vielleicht hinterher noch einen Film zusammen ansehen.«
    » Spiderman!« , rief Kalle und sein Gesicht leuchtete auf.
    »Der ist vielleicht ein bisschen zu aufregend für Ellen«, sagte Annika. »Aber Desmond und die Himbeerwald-Bande könnt ihr mitnehmen, was haltet ihr davon?«
    »Den haben wir doch schon gesehen«, maulte Kalle.
    »Der ist so schön, den kann man viele Male gucken«, sagte Annika und blies Ellen ins Haar. »Und dann seid ihr Dienstag und Mittwoch und Donnerstag bei Sophia, und am Freitag kommen ja Opa und Oma, die holen euch ab und nehmen euch mit auf die Insel, da könnt ihr mit Zico spielen. Und am Samstag ist Walpurgisfest, da kommt Papa nach Hause, und am Montag hole ich euch vom Kindergarten und vom Hort ab, und dann könnt ihr mir erzählen, was ihr alles angestellt habt. Wollen wir das so machen?«
    »Die ist doof«, nörgelte Ellen und wischte sich ihre Rotznase an Annikas T-Shirt ab.
    »Unsinn«, sagte Annika, und ihre Heuchelei hallte ihr in den Ohren. »Sophia ist ganz lieb. Sie mag euch wahnsinnig gern und freut sich, dass sie sich um euch kümmern darf.«
    »Die mag nur Papa«, sagte Kalle.
    Annika spürte, wie ihre Panik wuchs. Sie putzte Ellen die Nase mit Küchenpapier und starrte hinaus in den strömenden Regen.
    In manchen Momenten war alles, was sie sagte, eine Lüge. Sie log, um ihre eigenen Lebensentscheidungen zu rechtfertigen, ließ die Kinder den Preis für ihr eigenes Versagen bezahlen, sie zerrte sie zwischen der einen und der anderen Wohnung hin und her. Statt ein Zuhause hier und eins dort zu haben, hatten sie gar keins, statt zwei ganzen Elternteilen hatten sie zwei verkümmerte Hälften.
    Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
    »Ich verstehe ja, dass es nicht leicht ist«, sagte sie. »Ich vermisse euch so sehr, wenn ihr nicht bei mir seid.«
    »Warum können wir denn nicht die ganze Zeit bei dir sein?«, fragte Kalle.
    »Ich will immer bei dir sein«, schloss sich Ellen ihrem Bruder an und klammerte sich an Annikas Hals fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Vorsichtig löste sie die Arme des Mädchens.
    »Alle Kinder haben eine Mama und einen Papa«, erklärte sie, »und das Beste für alle Kinder ist es, wenn sie mit beiden zusammen aufwachsen. Aber wenn das nicht geht, dann muss man sich irgendwie anders einigen …«
    Kalle sah sie trotzig an.
    »Warum bestimmen immer nur die Großen?«, maulte er.
»Warum können Kinder nicht auch bestimmen?«
    Sie schluckte den Schmerz hinunter und lächelte ihn an.
    »Wenn du ein bisschen größer bist, kannst du selbst entscheiden.«
    »Ich bin doch schon groß.«
    »Du bist acht. Das ist noch nicht sehr groß.«
    »Wann ist man denn groß?«
    »Du meinst, so groß, dass man selbst bestimmen kann, wo man wohnen will? Mit zwölf ungefähr.«
    Der Junge sank in sich zusammen.
    »Das sind noch vier Jahre.«
    Er hatte mittlerweile Subtrahieren gelernt.
    »Ich will nicht bei Sophia sein«, fing Ellen wieder an.
    Annika schaute zur Uhr und stand mit dem Mädchen im Arm auf.
    »Ihr könnt euren Toast liegen lassen, den esse ich nachher auf. Kalle, lauf und zieh dich an. Ellen, ab in dein Zimmer, du ziehst die Sachen an, die wir gestern Abend rausgelegt haben. Sind eure Taschen fertig? Habt ihr alles eingepackt?«
    Die Kinder trollten sich in ihre Zimmer.
    Annika blieb in ihrer minimalistischen Küche zurück, starrte ihnen hinterher und fühlte das Blut in den Adern brennen wie Säure.
    Sie brachen eine Viertelstunde zu früh von zu Hause auf. Annika wusste selbst, dass sie eine Pünktlichkeitsfanatikerin war, eine Eigenart, die sich während ihrer Ehe mit Thomas noch verstärkt hatte, denn er war ein hoffnungsloser Pünktlichkeitsoptimist.
    Dass sie fünfzehn Minuten zu früh dran waren, gab ihnen Gelegenheit, unterwegs zu singen, vor Schaufenstern stehen zu bleiben und sich Dinge zu wünschen, zwei Schachteln Dragees beim Kiosk am Kungsholmstorg zu kaufen und ganz, ganz, ganz fest zu versprechen, sie erst aufzumachen, wenn sie abends den Film anschauten.
    Der Regen hatte nachgelassen und mittlerweile fast ganz aufgehört. Es war kühl, ein paar Grad über null,

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