Kalter Süden
aber windstill. Die Wolken lagen dick und schwer auf den Hausdächern und Turmspitzen, die Straßen wurden zu Schluchten, in denen man einigermaßen atmen konnte. Das Rosaschimmernde kehrte zum Teil zurück, das Gefühl des Schutzes verstärkte sich wieder.
Annika trug die beiden Taschen mit dem Nachtzeug der Kinder über der Schulter, dazu ihre eigene schwere Tasche mit Laptop und Unterlagen. Es wurden immer mehr Sachen, die die Kinder von einer Wohnung in die andere mitnehmen wollten, bisher hatte Annika noch nichts davon wegrationalisiert. Es reichte nicht mehr, die neue Poppy und den neuen Chicken mitzuschleppen, damit die Kinder sich zu Hause fühlten (die Originale von Chicken und Poppy waren im Vinterviksvägen verbrannt), sondern die Lieblingsjeans und die Lieblingsjacke und die guten Schuhe und ein paar Filme und mehrere Bücher mussten auch mit.
Annika brachte Kalle bis zum Schulhof und bekam zum Abschied eine schnelle Umarmung.
»Bis in einer Woche. Ich hole dich nächsten Montag wie gewohnt vom Hort ab, okay?«
Der Junge nickte und lief davon.
Dann gingen sie und Ellen zum Hort und legten die schwere Tasche mit allen Sachen in Kalles Fach.
»Kannst du mich tragen?«, bat das Mädchen und streckte die Arme zu ihr hoch.
»Nein«, sagte Annika und zog ihr die Mütze zurecht. »Du bist zu schwer. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen. Hier, nimm meine Hand.«
Sie gingen zusammen durch den U-Bahn-Tunnel, der den südlichen Teil der Insel mit dem nördlichen verband. Ellen runzelte die Augenbrauen, als würde sie angestrengt über etwas nachdenken.
»Du, Mama«, sagte das Mädchen und blickte zu Annika auf, als sie an den Boulebahnen von City-Boules vorbeikamen. »Werde ich auch mal eine Mama?«
»Vielleicht«, antwortete Annika. »Wenn du das möchtest.«
Das Kind dachte wieder eine Weile nach.
»Aber«, sagte sie, »wenn ich Mama bin, was bist du dann?«
»Dann bin ich immer noch deine Mama, aber ich bin auch Großmutter. Die Oma deiner Kinder.«
Ellen nickte nachdrücklich.
»Genau«, sagte sie. »Und dann werde ich alt, und dann wirst du wieder klein, und dann bin ich deine Mama.«
»Meinst du?«, fragte Annika verblüfft.
»Ja, weil, wenn ich alt bin, dann bist du tot, und dann kommst du wieder.«
»Aha«, sagte Annika.
Sie hatte ein Kind, das an Reinkarnation glaubte.
Sie kamen direkt neben dem Hotel Amaranten wieder ans graue Tageslicht, gingen die Pipersgatan hinunter bis zum Kindergarten im Vita Huset, nahmen die Abkürzung durch die Eingangshalle von Radio Stockholm und erreichten die dritte Etage. Annikas Schulter schmerzte, als sie endlich die schwere Tasche absetzen und in Ellens Fach stellen konnte.
Das Mädchen zog seinen Schal, die Schuhe und den Overall allein aus, schlüpfte dann in die Hausschuhe mit den kleinen Mäuseköpfen obendrauf und strich sich den Rock glatt.
»Ich wünsche dir ganz, ganz viel Spaß. Bis Montag dann, mein Schatz«, sagte Annika, bückte sich und umarmte ihre Tochter.
Ellen nickte. Die Tränen vom Morgen waren vergessen.
»Du, Mama«, sagte sie. »Ist das nicht komisch? Den lieben Gott gibt es, aber man kann ihn nicht sehen. Und den Weihnachtsmann kann man sehen, dabei gibt es den gar nicht.«
Dann lief sie los, um am Morgenkreis teilzunehmen.
Die Wolken hatten sich ein wenig aufgelockert und schwebten nun einige Meter über den Hausdächern. Annika kam es vor, als hätte sie schon seit Wochen keinen blauen Himmel mehr gesehen.
Im Februar war es in ganz Schweden plötzlich rekordverdächtig warm geworden. Bis weit hinauf nach Ångermanland begannen die Schneeglöckchen und Krokusse zu blühen, aber dann kam der Frost zurück. Der März war kalt und windig gewesen und hatte eine Reihe von Schneestürmen gebracht. Acht Leute waren in Jämtland erfroren, als ein Bus außerhalb von Trätgärde stecken blieb und einschneite. Während einer der Wochen, in denen Thomas die Kinder hatte, wurde sie hinauf nach Östersund geschickt, um über »die Stadt des Todes« zu schreiben, aber die übrige Zeit war sie in Stockholm geblieben. Sie hatte sich zwischen Wohnung, Kindergarten, Hort und Redaktion bewegt und keine Zeit gehabt, etwas anderes als Alltag zu erleben.
Das machte ihr nichts aus. Ein funktionierendes Leben mit Kindern und Job und Wohnung war schließlich keine Selbstverständlichkeit.
Sie ging die Verlängerung der Barnhusbron hinunter und atmete die Abgase der Fleminggatan ein. Sie bestieg den Bus der Linie 1 Richtung Stora Essingen, und
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