Kalter Süden
Bilanzfälschung und Steuervergehen, bis hin zu Mehrwertsteuertricksereien, Scheckkartenbetrug und Anzeigepflicht für Banken und Wechselstuben. Um das zu erreichen, mussten die jeweiligen Länder sich zunächst hinsetzen und die verschiedenen Gesetzestexte vergleichen, mussten feststellen, worin sie sich unterschieden, und anschließend diskutieren, wer was wie verändern sollte, damit die Verbrecher nicht einfach durch die Übertretung der Landesgrenze ungeschoren davonkamen.
Das hätte man auch wesentlich einfacher ausdrücken können, dachte Annika und stand auf, als die Konferenz beendet war. Sie drehte sich um und spähte durch den Saal. Von Thomas keine Spur.
Da fühlte sie eine Hand auf ihrem Kreuz.
»Hallo«, sagte Niklas Linde in ihr Ohr. »Würden Sie so freundlich sein und mir folgen?«
»Bin ich verhaftet?«, fragte Annika.
»Und wie«, sagte der Polizist.
Sie gingen in die Halle vor dem Konferenzsaal. Niklas Linde legte ihr die Hände um den Nacken und küsste sie, erst auf die eine Wange und dann auf die andere.
»Willkommen«, sagte er leise.
Sie lachte, führte die rechte Hand an den Hals und legte die Handfläche auf seine Fingerspitzen.
»Ist Knut Garen auch hier?«, fragte sie.
»Der sitzt drüben in der Tapasbar.«
»Annika?«, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sie atmete tief ein. Niklas Linde ließ sie los, und sie drehte sich um.
»Hallo, Thomas«, sagte sie.
Er hatte einen dieser neuen Anzüge an, die er nach dem Brand gekauft hatte: dunkel, leicht glänzend, italienisch. Rote Krawatte, Rimowa-Aktentasche, frisch polierte Schuhe. Sie lächelte seine struppigen Haare und blauen Augen an, aber er sah sie gar nicht. Er starrte den Polizisten neben ihr an.
»Kennst du Niklas Linde?«, fragte sie. »Er ist Drogenfahnder und arbeitet hier.«
Der Polizist trat einen Schritt vor, streckte die Hand aus und sagte »angenehm«. Thomas gab ihm ebenfalls die Hand und stellte sich mit einem schnellen Seitenblick auf Annika vor: »Thomas Samuelsson.«
»Thomas vertritt das schwedische Justizministerium«, erklärte Annika. »Wir waren mal verheiratet und haben zwei Kinder zusammen.«
»Ah ja«, sagte der Polizist und lächelte. »Wie nett. Ist das der, der nicht Rad fahren konnte?«
Annika hätte ihm am liebsten den Ellbogen in die Rippen gerammt.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie stattdessen zu Thomas, und dann zu Niklas: »Wollen wir uns nicht setzen?«
Niklas Linde legte ihr eine Hand auf die Schulter, ließ Thomas jedoch nicht aus den Augen.
»Eine Treppe tiefer«, sagte er, schob seine Hand in ihren Nacken und zeigte ihr den Weg durch den Metallkorridor.
Sie drehten sich um, und seine Handfläche landete auf ihrem Kreuz. Zutiefst befriedigt spürte sie Thomas’ Blick im Rücken.
»Frisch geschieden?«, fragte Niklas Linde und stellte sich auf der Rolltreppe dicht neben sie.
»Nicht mehr so frisch«, antwortete Annika und wich keinen Zentimeter zurück.
Knut Garen hatte sich mit Hähnchenflügeln, frittierten Babytintenfischen und Riesengarnelen in Knoblauch an einem Tisch niedergelassen. Er begrüßte sie herzlich.
»Wunderbar, dass wir das gleich hier machen können«, sagte Annika und nahm ihm gegenüber Platz. Niklas Linde setzte sich neben sie.
Sie legte Block und Stift auf den Tisch und bestellte agua con gas und eine tortilla mit albóndigas bei der Kellnerin.
»Ihr seid über meinen Auftrag auf dem neuesten Stand?«, fragte Annika, und die Polizisten nickten. »Warum sind Drogenschmuggel und Geldwäsche an der Costa del Sol zusammengewachsen?«
»Werfen Sie mal einen Blick auf die Landkarte«, sagte Knut Garen. »Eine Stunde mit dem Schiff bis Marokko, Europas Haschfabrik. Eine Dreiviertelstunde bis zum Atlantik, wo die Frachtschiffe aus Südamerika mit ihren Kokainladungen vor Anker gehen. Und mittendrin liegt Gibraltar, ein Steuerparadies ohne jede Kontrolle.«
Er steckte sich einen Babytintenfisch in den Mund und breitete die Arme aus.
»Hier hat man alles beisammen«, sagte er. »Die Rohwaren, die Transportwege, die Verteiler, das Steuerparadies, die Korruption und die Kunden.«
»Die Kunden?«, wiederholte Annika.
»Spanien hat die USA als Weltmeister im Kokainverbrauch überholt«, erklärte Niklas Linde. »Jeder vierte Spanier über fünfzehn hat schon mal gekokst.«
»Obwohl Haschisch mengenmäßig noch immer vorn liegt«, sagte Knut Garen. »Man schätzt, dass hundertzwanzigtausend Familien in Marokko ihr gesamtes Einkommen aus dem Anbau von Hanf
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