Kalter Süden
ist.«
»Und was machst du dann? Erklärst du ihr, dass er nicht mehr lebt?«
Julia nickte.
»Jedes Mal. Sie starrt mich dann immer nur lange an, und dann wechselt sie das Thema und spricht über etwas, was in den Sechzigerjahren passiert ist, oder über alte Spielfilme und Radiosendungen. Kannst du dich an eine Sendung erinnern, die Frühstücksclub hieß? Mit Sigge Fürst?«
Annika schüttelte den Kopf.
»Sie kann immer noch die Titelmelodie singen. Sigge Fürst war ihr Idol. Sie bildet sich ein, dass er Deutscher war, aber das stimmt gar nicht.«
»Aber Hannelore ist gebürtige Deutsche, oder?«
Julia nickte.
»Jüdin?«
Julia legte den Kopf schräg.
»Warum fragst du?«
»Nina hat mal gesagt, dass sie nach dem Krieg mit den Weißen Bussen nach Schweden gekommen ist. Und Davids andere Vornamen, Zeev und Samuel, könnten kaum jüdischer sein …«
»Sie weigert sich, darüber zu sprechen. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, wie es ihr im Konzentrationslager ergangen ist.«
»Hatte David Cousins oder Cousinen oder andere Verwandte?«
Julia zog ihre Strickjacke enger um den Körper.
»Hannelore ist die einzige Überlebende der Familie.«
Annika kaute ein Salatblatt und merkte, wie der Bissen im Mund immer größer wurde. Sie trank einen Schluck Wasser und würgte ihn hinunter.
»Wo ist Davids Vater?«, fragte sie.
»Seit vierzig Jahren aus dem Spiel. David wuchs mit Torsten als Vater auf, Torsten Ernsten.«
»Wer ist das?«
»Ein finnlandschwedischer Geschäftsmann. Hannelore und er waren nicht verheiratet. Er kam und ging, wie er wollte.«
»Oje«, sagte Annika. »Das klingt kompliziert, besonders für Djursholm in den Sechzigerjahren. Habt ihr noch Kontakt zu ihm?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Torsten ist verschwunden, als David achtzehn war. Das war der Auslöser dafür, dass Hannelore durchgedreht ist.«
»Verschwunden? Inwiefern ›verschwunden‹?«
»Er ging auf eine Geschäftsreise und kam nie mehr zurück. Da wurde Hannelore ins Heim eingewiesen.«
»Geschäftsreise wohin? Was für Geschäfte hat er denn betrieben?«
Julia zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
Annika musterte sie forschend. In was für eine merkwürdige Familie hatte Julia da eingeheiratet? Eine deutsche Jüdin, die mutterseelenallein auf der Welt war und einen Sohn bekam, der von Kindesbeinen an mit einem bekannten Finanzmann und einem internationalen Model befreundet war. Der Sohn wurde ermordet, das Model wurde ermordet, und alle anderen wurden entweder Polizisten oder Mörder.
Annika beugte sich vor.
»Als ihr da unten in Estepona gewohnt habt«, sagte sie, »damals, als David verdeckt an der Costa del Sol im Einsatz war, seid ihr da jemals mit Sebastian Söderström und seiner Familie zusammengetroffen?«
Julia sah sie mit großen Augen an.
»Mit dem Eishockeyspieler?«, fragte sie. »Der gestorben ist? Nein, das ist ein Missverständnis. Nur weil David aus dem Fernsehen bekannt war, bedeutete das nicht, dass wir Umgang mit anderen Prominenten gehabt hätten. Wir waren da unten immer für uns, das heißt natürlich, wenn David nicht gerade dienstlich unterwegs war. Dann war ich ganz allein …«
Sie schauderte und sah rasch auf ihre Uhr. Annika tat es ihr nach. In zehn Minuten war Julia mit Henrietta am U-Bahnhof T-Centralen verabredet.
»Wir müssen wohl langsam los«, sagte Julia. Sie stand auf, nahm die Sachen ihres Sohnes von der Stuhllehne und ging Richtung Toiletten. Sie zog den Jungen an, als sei er eine willenlose Puppe.
»War schön, dich zu sehen«, sagte sie, als sie auf dem Weg zur Treppe an Annika vorbeigingen. »Im Juni sollen wir tageweise in unsere Wohnung zurück. Dann kommst du uns auf jeden Fall mal besuchen, ja?«
»Na klar«, antwortete Annika automatisch.
Julia kramte einen Stift und einen Papierschnipsel aus ihrer Tasche.
»Das hier ist unsere Telefonnummer zu Hause«, sagte sie und kritzelte etwas auf das Stück Papier, offenbar ein alter Busfahrschein. »Wir haben uns eine Geheimnummer geben lassen, als David anfing, im Fernsehen aufzutreten. Die Leute waren damals völlig hysterisch und riefen die ganze Nacht an …«
Sie umarmte Annika, nahm ihren Sohn an die Hand und ging zur Treppe.
Annika sah den wippenden Pferdeschwanz Stufe für Stufe Richtung Erdgeschoss verschwinden, und dann waren sie weg. Sie schaute auf ihren fast jungfräulichen Hähnchensalat und merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Sie verschlang das Fleisch und das Grünzeug, schob aber
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