Kalter Tod
Rachel Walling –, dass sie wahrscheinlich eine Akte so dick wie ein Mordbuch über ihn hatten.
Nach etwa einer Minute Schweigen beschloss Bosch, eine andere Richtung einzuschlagen, und fragte: »Was können Sie mir über Caesium sagen?«
»Was hat Ihnen Agent Walling bereits erzählt?«
»Nicht viel.«
»Caesium ist eigentlich ein Abfallprodukt, das bei der Fusion von Uran und Plutonium entsteht. Bei dem Zwischenfall in Tschernobyl war es durch die Kernschmelze entstandenes Caesium, das sich in der Luft verbreitete. Es nimmt die Form von Pulver oder silbergrauem Metall an. Als im Südpazifik Atomtests durchgeführt wurden …«
»Ich meine nicht den wissenschaftlichen Kram. Der interessiert mich nicht. Ich will wissen, womit wir es hier konkret zu tun haben.«
Brenner überlegte kurz.
»Okay«, begann er. »Das Zeug, um das es hier geht, hat etwa die Größe eines Bleistiftradiergummis. Es kommt in einen verschlossenen Stahlzylinder von der Größe einer Fünfundvierziger-Patrone. Beim Einsatz in der gynäkologischen Krebstherapie wird es in den Körper der Patientin – oder genauer: in den Uterus – eingesetzt und bestrahlt dann den gewünschten Bereich. Es soll, in kurzen Dosen verabreicht, außerordentlich wirksam sein. Aufgabe von Leuten wie Stanley Kent ist es nun, die richtige Dosis zu berechnen – das Ganze physikalisch abzuklären und zu bestimmen, wie lange eine Patientin einer bestimmten Dosis ausgesetzt werden soll. Danach holt er das Caesium aus dem Tresor des Krankenhauses und bringt es dem Onkologen persönlich in den OP. Der Ablauf wird so abgestimmt, dass der Arzt, der den Eingriff vornimmt, nur möglichst kurz mit dem Caesium in Berührung kommt. Weil der Chirurg während des Eingriffs keine Schutzkleidung tragen kann, soll die Strahlenbelastung, der er ausgesetzt wird, auf ein Minimum reduziert werden, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Bosch nickte.
»Schützen diese Röhrchen – die Patronen – denjenigen, der mit ihnen zu tun hat?«
»Nein. Das Einzige, was die Gammastrahlen von Caesium abhält, ist Blei. Deshalb ist der Safe, in dem das Caesium aufbewahrt wird, mit Blei ausgekleidet. Und der Behälter, in dem es transportiert wird, ist ebenfalls aus Blei.«
»Aha. Und was hat es für Folgen, wenn dieses Zeug in die Umwelt gelangt?«
Brenner dachte kurz nach, bevor er antwortete.
»Das hängt ganz von der Menge, der Art, wie es freigesetzt wird, und vom Ort ab. Das sind die variablen Größen. Caesium hat eine Halbwertzeit von dreißig Jahren. Generell gelten zehn Halbwertzeiten als Sicherheitsspanne.«
»Das ist mir zu hoch. Was heißt das im Klartext?«
»Im Klartext heißt das, dass sich die Strahlungsmenge alle dreißig Jahre um die Hälfte verringert. Wenn Sie also eine hinreichende Menge dieses Zeugs in einer geschlossenen Umgebung freisetzen – zum Beispiel in einer U-Bahnstation oder einem Bürogebäude – müsste dieser Ort dreihundert Jahre lang geschlossen bleiben.«
Das nahm Bosch mit Bestürzung zur Kenntnis.
»Und wie sieht es mit Menschen aus?«, fragte er.
»Auch das hängt davon ab, wie es freigesetzt wird und in welcher Umgebung. Bei hoher Belastung führt die Strahlung in wenigen Stunden zum Tod. Wenn es in einer U-Bahnstation durch eine USBV verteilt wird, wäre die Zahl der unmittelbaren Todesfälle, nehme ich mal an, sehr niedrig. Aber worum es bei so etwas geht, ist ja nicht eine möglichst hohe Anzahl an Todesopfern. Diesen Leuten kommt es auf das Angstpotenzial an. Man führt so einen Anschlag in sehr begrenztem Rahmen durch, aber das Entscheidende ist die Welle der Angst, die er im ganzen Land auslöst. Eine Stadt wie Los Angeles? Sie wäre danach nie mehr dieselbe.«
Bosch nickte nur. Sonst gab es nichts zu sagen.
6
Sie betraten das St. Aggy durch den Haupteingang und verlangten nach dem Sicherheitschef. Die Frau am Empfang sagte ihnen, der Sicherheitschef habe immer nur tagsüber Dienst, aber sie werde den Nachtschicht-Leiter verständigen. Während sie warteten, hörten sie auf der langen Rasenfläche vor dem Krankenhaus einen Hubschrauber landen, und wenig später kamen die vier Männer des radiologischen Teams herein, jeder in einem Strahlenschutzanzug mit Gesichtsschutz. Der Leiter des Teams – auf seinem Namensschild stand KYLE REID – hielt ein tragbares Strahlenmessgerät.
Nach zweimaligem Nachhaken bei der Frau am Empfang tauchte endlich ein Mann im Foyer auf, der aussah, als wäre er gerade aus einem Bett in einem unbelegten
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