Kalter Tod
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Der Mail war ein Foto von Alicia Kent beigefügt, wie sie nackt und gefesselt auf dem Bett lag. Die Botschaft des Fotos war für jeden offensichtlich, nicht nur für den Ehemann.
Der Text lautete:
Wir haben Ihre Frau. Beschaffen Sie uns alle Caesium-Quellen, zu denen Sie Zugang haben. Bringen Sie sie bis 20 Uhr in einem sicheren Behälter zum Mulholland-Aussichtpunkt nicht weit von Ihrem Haus. Wir werden beobachten. Wenn Sie jemandem etwas erzählen oder mit jemandem telefonieren, wir werden wissen. Das wird zur Folge haben, dass Ihre Frau vergewaltigt, gefoltert und in mehr Stücke geschnitten wird, als Sie zählen können. Gehen Sie vorsichtig mit dem radioaktiven Material um. Seien Sie nicht zu spät, sonst bringen wir sie um.
Bosch las die Nachricht zweimal und glaubte, dasselbe Entsetzen zu spüren, das Stanley Kent empfunden haben musste.
»›Wir werden beobachten, wir werden wissen‹«, sagte Walling. »So redet doch kein Mensch. Außerdem ist Aussichtspunkt falsch geschrieben, und dann noch die komische Formulierung im letzten Satz. Ich glaube nicht, dass das jemand geschrieben hat, dessen Muttersprache Englisch ist.«
Noch während sie es sagte, wurde es auch Bosch klar. Er wusste, sie hatte recht.
»Sie haben die Nachricht von hier abgeschickt«, sagte Brenner. »Der Mann kriegt sie in seinem Büro oder auf seinem Handheld – hatte er einen PDA?«
Auf diesem Gebiet kannte sich Bosch nicht aus. Er zögerte.
»Einen persönlichen digitalen Assistenten, einen Handheld«, half ihm Walling. »Du weißt schon, einen elektronischen Organizer wie einen Palm Pilot oder eins von diesen Handys mit allen Schikanen.«
Bosch nickte.
»Ich glaube schon«, sagte er. »Am Tatort wurde ein BlackBerry-Handy gefunden. Es sah so aus, als hätte es eine kleine Tastatur.«
»Das würde passen«, sagte Brenner. »Egal, wo er also ist – er erhält diese Nachricht und kann wahrscheinlich auch das Foto sehen.«
Alle drei schwiegen, als sie sich die Wirkung der E-Mail vergegenwärtigten. Schließlich ergriff Bosch das Wort. Inzwischen hatte er ein schlechtes Gewissen, ihnen diese Information vorenthalten zu haben.
»Da fällt mir ein: Der Tote hatte ein Namensschild anstecken. Vom St. Aggy oben im Valley.«
Brenner nahm es zur Kenntnis, und sein Blick bekam etwas Durchdringendes.
»So eine Schlüssel-Information fällt Ihnen plötzlich einfach so ein?«, sagte er verärgert.
»Sicher. Ich …«
»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, ging Walling dazwischen. »Das St. Aggy ist eine Krebsklinik für Frauen. Caesium wird fast ausschließlich für die Behandlung von Gebärmutterkrebs verwendet.«
Bosch nickte.
»Dann fahren wir lieber gleich mal los«, sagte er.
5
Die Saint Agatha’s Clinic for Women war in Sylmar am Nordende des San Fernando Valleys. Weil es mitten in der Nacht war, kamen sie auf dem Freeway 170 gut voran. Bosch war am Steuer seines Mustang, ein Auge immer auf der Tankanzeige. Er wusste, er musste tanken, bevor er in die Stadt zurück fuhr. Bei ihm im Wagen war Brenner. Es war beschlossen worden – von Brenner –, dass Walling bei Alicia Kent bleiben sollte, um sie weiter zu befragen und zu stützen. Walling schien nicht besonders glücklich über den Auftrag, aber Brenner ließ sich unter Berufung auf seine Vorrangstellung in der Partnerschaft auf keine Diskussionen ein.
Brenner führte während der Fahrt mehrere Handygespräche mit Vorgesetzten und anderen Agenten. Aus dem, was er von ihnen mitbekam, schloss Bosch, dass die gigantische FBI-Maschinerie langsam ins Rollen kam. Inzwischen schrillten die Alarmglocken deutlich lauter. Die E-Mail an Stanley Kent hatte ein deutlich klareres Bild gezeichnet, und was das FBI ursprünglich nur beiläufig interessiert hatte, nahm jetzt wesentlich dramatischere Dimensionen an.
Als Brenner schließlich das Handy zuklappte und in seine Jackentasche zurücksteckte, drehte er sich leicht zur Seite und sah zu Bosch hinüber.
»Ich habe ein RAT-Team fürs St. Aggy angefordert«, sagte er. »Sie gehen in den Materialtresor rein, um nachzusehen.«
»Ein RAT-Team?«
»Ein Radiological Attack Team.«
»Wann treffen sie dort voraussichtlich ein?«
»Das habe ich nicht gefragt, aber möglicherweise schon vor uns. Sie haben einen Hubschrauber.«
Bosch war beeindruckt. Es hieß, dass irgendwo mitten in der Nacht ein Schnelleinsatzkommando im Dienst gewesen war. Er dachte daran, wie er an diesem Abend wach gewesen war und auf
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