Kalter Tod
Sie würden die Autos erkennen, wenn ich Ihnen Fotos aller möglichen Limousinen zeigen würde?«
»Nein, dazu habe ich sie nicht gut genug gesehen. Ich war zu weit weg.«
Bosch nickte, aber er war enttäuscht. Er dachte kurz nach. Mitfords Schilderung passte zu den Angaben, die ihnen Alicia Kent gemacht hatte. Die zwei Männer, die in das Haus der Kents eingedrungen waren, mussten ein Auto gehabt haben, um dorthin zu kommen. Anschließend war vermutlich einer mit diesem Wagen wieder weggefahren, während der andere den Chrysler der Kents genommen hatte, um damit das Caesium zu transportieren. Das schien das Naheliegendste.
Seine Überlegungen hatten eine weitere Frage an Mitford zur Folge.
»In welche Richtung fuhr das zweite Auto?«
»Es wendete ebenfalls und fuhr den Hügel hinunter.«
»Und sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich? Nichts. Ich blieb einfach, wo ich war.«
»Hatten Sie Angst?«
»Klar. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich gerade gesehen hatte, wie ein Typ umgebracht wurde.«
»Sie haben aber nicht nachgesehen, ob er noch lebte und vielleicht Hilfe bräuchte?«
Mitford wandte den Blick von Bosch ab und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich hatte Angst. Tut mir leid.«
»Schon gut, Jesse. Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken. Er war schon tot. Er war schon tot, bevor er auf dem Boden landete. Was mich aber trotzdem interessieren würde, ist, warum haben Sie sich so lang dort oben versteckt? Warum sind Sie nicht wieder nach unten gegangen? Warum haben Sie nicht bei der Polizei angerufen?«
Mitford hob die Hände und ließ sie auf den Tisch fallen.
»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich, weil ich Angst hatte. Ich habe mich nach dem Stadtplan gerichtet, als ich den Hügel hinaufgegangen bin, deshalb war das der einzige Weg, den ich kannte, um wieder zurückzukommen. Ich hätte direkt an dem Aussichtspunkt vorbei gemusst, und ich dachte, was ist, wenn die Cops anrücken, wenn ich dort gerade vorbeigehe? Möglicherweise hätten sie es mir in die Schuhe geschoben. Und außerdem dachte ich, wenn das die Mafia oder so was Ähnliches war und wenn die rausfinden, dass ich alles gesehen habe, bringen sie mich auch um oder so was.«
Bosch nickte.
»Ich glaube, Sie schauen dort oben in Kanada zu viel amerikanisches Fernsehen. Aber was das angeht, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir passen schon auf Sie auf. Wie alt sind Sie, Jesse?«
»Zwanzig.«
»Was wollten Sie in Madonnas Haus? Ist sie nicht ein bisschen alt für Sie?«
»Nein, es ist nicht, wie Sie vielleicht denken. Ich war wegen meiner Mutter dort.«
»Sie haben ihr wegen Ihrer Mutter aufgelauert?«
»Nein, ich bin kein Stalker. Ich wollte nur ein Autogramm oder ein Bild oder sonst was von ihr, damit ich etwas hätte, was ich meiner Mom schicken kann, weil ich sonst nichts Gescheites habe. Sie wissen schon, nur damit sie sieht, dass sie sich keine Sorgen um mich zu machen braucht. Ich dachte, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich Madonna getroffen habe, dann stünde ich nicht als so ein … na ja, Sie wissen schon. Ich bin praktisch mit der Musik von Madonna aufgewachsen, weil meine Mom sie ständig gehört hat. Und da dachte ich einfach, es wäre irgendwie cool, ihr was von ihr zu schicken. Sie hat nämlich bald Geburtstag, und ich habe noch kein Geschenk für sie.«
»Warum sind Sie nach L. A. gekommen, Jesse?«
»Ich weiß auch nicht. Ich dachte einfach, das ist die Stadt, wo es wirklich abgeht. Ich hoffte, ich könnte vielleicht bei einer Band einsteigen oder so was. Aber wie es aussieht, haben die meisten schon eine Band, wenn sie hierher kommen. Ich habe keine.«
Bosch dachte, Mitford hätte einen auf umherziehenden Troubadour gemacht, aber bei seinem Rucksack im Bereitschaftsraum war keine Gitarre oder sonst ein tragbares Instrument gewesen.
»Sind Sie Musiker oder Sänger?«
»Ich spiele Gitarre, aber ich musste meine vor ein paar Tagen verpfänden. Ich löse sie wieder aus.«
»Wo wohnen Sie?«
»Im Moment habe ich keine feste Bleibe. Diese Nacht wollte ich eigentlich oben in den Hügeln schlafen. Wahrscheinlich ist das der eigentliche Grund, warum ich mich nicht verdrückt habe, nachdem ich gesehen hatte, was mit dem Typen dort oben passiert ist. Ich hatte sonst nichts zum Schlafen.«
Jetzt war Bosch alles klar. Es gab Tausende anderer wie Jesse Mitford, die Monat für Monat mit dem Bus oder per Autostopp nach Los Angeles kamen. Mehr Träume als Pläne oder Geld. Mehr
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