Kalter Weihrauch - Roman
die Schwester stieg hinauf, sie folgten ihr. Heiligenbilder hingen an der Wand, so dunkel von der Zeit, dass kaum mehr ein Motiv zu erkennen war. Nur einmal ein bleicher Körper, der von Speeren durchbohrt war. Leo schauderte es. Die Frauen, die er kannte, schmückten ihre Wohnungen mit gerahmten Postern oder mit kitschigen Masken aus dem Venedigurlaub. Na ja, auch nicht viel besser.
Im ersten Stock war der Fliesenboden mit einem ausgetretenen roten Läufer belegt, der ihre Schritte dämpfte. Die Fenster gingen auf die Straße hinaus, Leo registrierte es mit Erleichterung. Wenigstens waren sie nicht in die Katakomben hinabgestiegen, oder wie man das nannte. Eine Tür mit Doppelflügeln bildete das Ende des Ganges. Die Schwester bedeutete ihnen zu warten. Sie klopfte an die Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und sagte ein paar leise Worte. Dann öffnete sie den rechten Flügel: »Bitte treten Sie ein.« Die Tür wurde hinter ihnen geschlossen.
Der Raum war groß und hell – und wunderbar warm. Vollbestückte Buchregale bedeckten seine Wände. Ein Schreibtisch stand vor dem Fenster, auf dem sich Zeitschriften und Papierstapel türmten, ein altmodischer großer Computer surrte leise. Hinter dem Schreibtisch hatte sich eine Frau erhoben. Sie war in mittleren Jahren, ihr Gesicht sah ziemlich energisch, aber nicht unfreundlich aus. Ihre hellen Augen musterten die Besucher eingehend, das Haar war vollständig unter der weißen Haube verborgen, ihr Gewand von einer breiten Schärpe gegürtet. Pestallozzi streckte die Hand aus, die Frau ergriff sie.
»Ich bin Chefinspektor Artur Pestallozzi von der Mordkommission Salzburg, und das ist mein Kollege Leo Attwenger. Grüß Gott, Frau Oberin.«
Die Frau schüttelte ihnen beiden die Hand, dann wies sie auf die Sessel vor ihrem Schreibtisch. Alle drei nahmen Platz.
»Ich habe eigentlich gedacht, dass die Schwester von gestern Abend die Oberin dieses Klosters gewesen ist«, sagte Pestallozzi.
»Das war ein Missverständnis«, unterbrach ihn die Frau. »Sie haben gestern Abend mit Schwester Benedikta gesprochen, die meine Stellvertreterin ist. Man wollte mich nicht mehr behelligen, weil ich mich nicht wohlgefühlt habe. Wir haben in der vergangenen Woche fast alle die Grippe gehabt. Es tut mir leid, dass meine Mitschwestern die Lage nicht ganz richtig eingeschätzt haben.«
»Ah ja«, sagte Pestallozzi.
Du schaust mir aber höchst gesund aus, dachte Leo. Er sah sich unauffällig im Zimmer um, es wirkte so harmlos wie das Zimmer in irgendeiner WG. Einer Senioren-WG natürlich, mit dem ganzen Bücherkram und dem Kruzifix in der Ecke. Aber nicht ungemütlich.
»Wie viele Schwestern leben in diesem Haus?«
»Unsere Gemeinschaft umfasst derzeit 15 Schwestern, mich eingeschlossen. Zwei davon werden ständig auf unserer Pflegestation betreut.«
»Sind Sie ein Orden, der nur betet? Oder wird hier auch gearbeitet? Entschuldigen Sie, dass ich diese Fragen stelle. Aber ich muss mir ein Bild machen.«
»Ich habe kein Problem damit, Herr Pestallozzi. Wir beten und wir arbeiten. Wir betreiben eine kleine Landwirtschaft. Früher haben wir sogar Kühe gehabt, und Schwester Benedikta ist mit dem Traktor gefahren, aber das mussten wir schon vor Jahren aufgeben, da ist es uns nicht besser ergangen als vielen anderen Bauern. Aber wir haben noch immer unseren Gemüsegarten und unsere Blumen im Sommer. Außerdem führen wir einen Laden, der zweimal in der Woche geöffnet ist und zum Glück sehr gut angenommen wird. Da werden Kerzen und Marmeladen verkauft, die wir selbst herstellen. Und wir bieten, allerdings nur in einem sehr beschränkten Rahmen und nur für weibliche Gäste, die Möglichkeit zu Einkehrtagen an.«
»Ah ja.«
Pestallozzi betrachtete den Heiland am Kreuz. Die Zeit des verbindlichen Plauderns war vorüber. Auch die Frau wappnete sich, es ging wie ein unmerkliches Beben durch ihren Körper.
»Frau Oberin, Sie wissen ja, weshalb wir hier sind«, sagte Pestallozzi. »Die junge Frau wurde bereits obduziert, und es steht nun fest, dass sie erstickt worden ist. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um die Postulantin Agota aus Ihrem Haus handelt. Können Sie mir Näheres über sie sagen?«
Die Frau hatte die Hände gefaltet. Einen Moment lang dachte Leo, dass sie gleich zu beten anfangen und womöglich erwarten würde, dass sie mit einstimmten. So wie beim Tischgebet in frommen Familien. Na, da würde sie ihr blaues Wunder erleben! Aber die Frau hielt nur einen Augenblick
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