Kalter Weihrauch - Roman
sie hat diese Zeit gebraucht, um sich zu sammeln und zur Ruhe zu kommen, das war ihr deutlich anzumerken. Auch wenn sie sehr verschlossen war.«
»Die Schwester gestern hat mir aber gesagt, dass sie eine sogenannte Postulantin war. Also im Vorstadium einer …«
»Ich weiß, was eine Postulantin ist, Herr Pestallozzi. Nein, Agota Lakatos hat sich nicht auf ein Leben im Kloster vorbereitet. Aber sie hat unter uns wie eine Postulantin gelebt. Ich habe das auf meine Kappe genommen.«
Eine entschlossene Frau, dachte Pestallozzi. Er spürte, wie der Widerwillen, der seinen Magen umkrampft hielt, seitdem sie wieder dieses Haus betreten hatten, sich ein ganz klein wenig lockerte. Zum Glück hatte es vorhin nach Zwiebeln gerochen und nicht nach angebranntem Grießbrei. Wie damals im Kindergarten. Ob diese Frau es wohl geduldet hätte, dass man Kindern …
»Jemand muss Agota Lakatos identifizieren«, sagte Pestallozzi. »Wollen Sie selbst oder soll jemand aus Ihrem Haus …«
»Ich werde das selbstverständlich selbst übernehmen.«
»Nun, dann würde ich Sie jetzt ersuchen, uns nach Salzburg zu begleiten.«
Jetzt?, dachte Leo. Heute noch? Und es ist ja noch nicht einmal der allergrößte Knaller angesprochen worden! Das Gesicht dieser Oberin hätte er nämlich nur zu gern gesehen, wenn sie erfahren würde, dass diese Agota gar keine richtige Frau … oder wusste sie das sowieso? Leo hüstelte übertrieben laut, um den Chef auf seine Unterlassung aufmerksam zu machen, aber der reagierte nicht.
Die Oberin hatte sich nach einem kurzen Zögern erhoben und griff nach einer abgewetzten Ledermappe. Ihre Besucher standen ebenfalls auf. An der Tür hing ein dunkler Wetterfleck, den sich die Frau um die Schultern legte. »Ich bin bereit.«
Pestallozzi öffnete die Tür und sie traten hinaus auf den Gang. Die junge Schwester erhob sich von einer Bank, auf der sie offensichtlich gewartet hatte. Es war so kalt, dass ihre Nasenspitze ganz rot war. Was sie nur umso hübscher aussehen ließ. Schade, dachte Leo. Wenn du mir rechtzeitig begegnet wärst, dann wärst du jetzt bestimmt nicht … Er lächelte der jungen Schwester zu, aber die sah nur die ältere Frau an.
»Roswitha, ich werde für zwei oder drei Stunden weg sein«, sagte die Oberin. »Bitte sag Schwester Benedikta Bescheid.«
Die junge Frau neigte den Kopf und deutete eine Bewegung wie einen Knicks an. Sie gingen an ihr vorüber, Leo drehte sich noch einmal um, aber Roswitha hielt den Kopf gesenkt. An der Pforte wartete bereits eine Schwester mit Brille auf sie, es war nicht auszumachen, ob es die Schwester war, die gestern Abend im Schneetreiben das Schiebetürchen geöffnet hatte. Sie verließen das Kloster und traten hinaus in einen kalten Nachmittag, der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Pestallozzi führte ein kurzes Handygespräch, offenbar kündigte er der Gerichtsmedizin ihr Kommen an. Leo setzte sich ans Steuer, Pestallozzi hielt der Oberin die Tür zum Rücksitz auf, dann nahm er neben Leo Platz. Sie fuhren langsam bergab, der See lag vor ihnen wie ein riesiges dunkles Auge. Endlich bogen sie auf die Uferstraße ein, die in die Bundesstraße münden würde. Verschneiter Wald gab nur ab und zu den Blick aufs Wasser frei.
»Hier in der Nähe soll ja demnächst ein großes Hotel gebaut werden«, sagte Pestallozzi und sah zum Seitenfenster hinaus.
»Die Zeiten ändern sich«, sagte die Oberin nach einer langen Pause.
»Tempus fugit«, sagte Leo. Ha, jetzt würden die Augen machen! Tempus fugit, die Zeit flieht, das hatte er aus der Zitatensammlung, die er sich erst unlängst in der Buchhandlung in der Kaigasse zugelegt hatte. Denn er setzte seinen Vorsatz, sich weiterzubilden, gewissenhaft in die Tat um. Leo linste erwartungsvoll zum Chef hinüber. Der schmunzelte und schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Aber überrascht war er, das konnte man sehen. Leo schaltete höchst zufrieden in den nächsten Gang.
Sie schwiegen bis Salzburg. Was sollte man mit einer Oberin auch plaudern?
Leo fuhr durchs Pförtnertor auf das Klinikgelände, Pestallozzi hatte nur kurz seinen Ausweis zum Fenster hinausgehalten. Der Park schien ihm noch leerer als gestern zu sein. Normalerweise waren am Wochenende die Bänke dichtbesetzt von Menschen, die Kranke in einem der Pavillons besuchen kamen und noch eine letzte Zigarette rauchen oder einfach tief durchatmen wollten, bevor sie sich mit fröhlicher Miene in die Zimmer begaben. Aber heute war es hier so still und verwaist
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