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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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inne und schloss die Augen, dann sah sie wieder den Chef an.
    »Das ist ein entsetzliches Geschehen für uns alle«, sagte die Frau, die also die Chefin von diesem Haus war. »Wir sind tief erschüttert, was unserer Schwester widerfahren ist. Wir haben seit Ihrem Besuch gestern für ihre Seele gebetet.«
    »Wir bedauern Ihren Verlust«, sagte Pestallozzi, »und noch viel mehr bedauern wir, dass diese junge Frau ihr Leben verloren hat. Was können Sie uns also über sie berichten?«
    Für jeden Außenstehenden hätte Pestallozzi so höflich wie immer geklungen, aber Leo bemerkte sehr wohl den kalten Unterton, der sich in die Stimme vom Chef eingeschlichen hatte. Diese Oberin sollte nicht mehr allzu lang versuchen, sie mit Floskeln abzuspeisen. Spuck endlich aus, was du weißt, dachte Leo. Sonst wird es hier sehr bald ziemlich ungemütlich.
    »Ich habe alle Unterlagen über Agota Lakatos für Sie vorbereitet«, sagte die Oberin und schob ein Blatt Papier über den Tisch. »Alles, was wir haben. Es ist allerdings nicht sehr viel. Agota ist im vorigen April zu uns gekommen, aus einem kleinen Ort gleich hinter der ungarischen Grenze. Wir führen dort eine Betreuungsstelle für junge Frauen, die Hilfe brauchen.«
    Pestallozzi nahm das Blatt und reichte es an Leo weiter.
    »Nehmen Sie oft Frauen aus Ungarn bei sich auf?«
    Die Oberin schüttelte den Kopf. »Es war zum ersten Mal. Aber Schwester Annunziata, die dieses Projekt leitet, hatte eindringlich darum gebeten. Sie hat gemeint, dass Agota …«, sie suchte nach Worten, »… dass Agota gefährdet sei.«
    »Gefährdet? Wie meinen Sie das?«
    Die Frau im weißen Habit bedachte Pestallozzi mit einem schwer zu deutenden Blick. »Wir kümmern uns in den Ländern des ehemaligen Ostblocks um junge Frauen, die einen Weg aus allerbitterster Armut heraus suchen. Und oft genug, viel zu oft, führt sie diese Suche geradewegs in die Prostitution. Ich muss Ihnen ja wohl nichts über die Probleme des Schlepperunwesens und des Frauenhandels erzählen, Herr Pestallozzi. Wir tun, was wir können, aber es ist bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein, wie es so schön heißt. Schwester Annunziata führt das Haus bereits seit neun Jahren und hat schon einiges bewirken können. Aber oft muss sie einfach …« Die Oberin hielt inne, blickte auf den Computerbildschirm und schien für einen Moment weit weg zu sein. Als ob sie die Geschichten ordnen wollte, die sie hätte erzählen können und nun entscheiden musste, wie viel sie preisgeben wollte. »Aber oft muss sie einfach hinnehmen, dass ihr die Mädchen wieder entgleiten. Wir können Hilfe nur anbieten, wir können sie nicht durchsetzen oder jemandem aufzwingen.«
    Sie schwieg und sah wieder ihre Besucher an, ein Anflug von Zorn und Erbitterung schien über ihr Gesicht zu huschen.
    »Und Agota …«, sagte Pestallozzi.
    »Agota war so ein Mädchen. Sie ist aus einer Großfamilie gekommen und hat schon als Kind zum Einkommen beitragen müssen. Zuerst durch Betteln, soviel ich weiß, und dann ist ihr das Los eines Mädchens in einem solchen Milieu nicht erspart geblieben. So hat sich auch der Kontakt zu unserer Beratungsstelle und zu Schwester Annunziata ergeben. Wir bieten den jungen Frauen Beistand und medizinische Versorgung an.«
    »Aber wieso ist sie hierher gekommen, in dieses Haus?« Pestallozzi blieb hartnäckig. Leo hätte nur zu gern mit dem Kopf gewackelt, um seine angespannten Nackenmuskeln zu lockern. Sag endlich, was du weißt, dachte er. Sonst sitzen wir noch um Mitternacht hier, der Chef gibt niemals klein bei.
    Die Oberin sah jedenfalls nicht drein, als ob sie über diese Fragen erfreut schien. »Schwester Annunziata hat mich inständig darum gebeten. Sie hat gemeint, dass Agota eine Rückzugsmöglichkeit brauchen würde, wenigstens für eine begrenzte Zeit. Ich habe ihrer Bitte entsprochen, weil ich Schwester Annunziata sehr schätze und ihr Urteilsvermögen in höchstem Maß respektiere.«
    Die Oberin hatte das Kinn einen Millimeter erhoben, es sah nicht arrogant aus, aber sehr entschlossen. Leo musste plötzlich an die Schwäne denken, die im Sommer ihre Jungen so vehement beschützten, wenn ihnen die Touristen zu nahe kamen. Die spreizten auch die Flügel und …
    »Wollte Agota Nonne werden?«
    Die Frau gestattete sich ein Lächeln. »Das glaube ich nicht. Man sollte nie das Leben im Kloster in Erwägung ziehen, weil das Leben draußen zu mühsam oder zu bitter erscheint. Das ist der absolut falsche Weg. Aber

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