Kalter Weihrauch - Roman
wenigstens hatte die abgehoben. »Sag einmal, weißt du eigentlich, wie spät es ist? Und was haben wir ausgemacht, kannst du dich daran vielleicht noch erinnern? Zehn Uhr! Zehn Uhr allerspätestens! Also sei so gut und …« Sie hatte geklungen wie ihre eigene Mutter vor mehr als einem Vierteljahrhundert. Irgendwann um elf herum war die Miriam dann endlich aufgetaucht und sofort in ihrem Zimmer verschwunden, natürlich ohne ein Wort der Erklärung oder gar der Entschuldigung. Sie selbst war noch am Computer gesessen und hatte Websites zum Thema Transsexualität durchforstet, keine Lektüre, die einem das Einschlafen erleichterte. Die vielen Leidensgeschichten, die sich hinter den Statistiken verbargen. Die hilflosen Eltern. Die Kinder, die aufwuchsen und ahnten, spürten, wussten, dass sie anders waren. Die Operationen.
Sie schloss die Augen. Sie hätte jetzt gut noch einen zweiten Prosecco vertragen können. Aber sie wollte nicht wie eine einsame Frau vor der Flasche sitzen, wenn Miriam endlich zum Frühstück erscheinen würde. Ob sie jetzt schon die erste Kerze auf dem Adventkranz anzünden sollten? Oder erst am Abend? Früher hatten sie immer gemeinsam den Adventkranz mit roten Bändern und Schneeflocken aus Watte verziert, aber sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihre Tochter auf so ein Vorhaben reagieren würde. Ihre Tochter, um die sie sich solche Sorgen machte. Irgendwie entglitt ihr Miriam. Sie hatte nie zu den Müttern gehört, die sich brüsteten, die Freundinnen ihrer Töchter zu sein. Die über alles mit ihren Töchtern sprachen, angeblich auch über Allerintimstes, einfach eine grässliche Vorstellung. Aber Miriam zog sich seit ein paar Monaten so sehr von ihr zurück, dass es wirklich wehtat. Gerade jetzt, wo es so viele Gefahren gab, vor denen sie doch gewarnt werden musste. All die Perverslinge, die in Internet-Chats nur auf ihre Chance lauerten, sich an verunsicherte Mädchen heranzumachen. Und gerade jetzt hatte sie auch noch diese Agota auf dem Tisch liegen. Dieses Mädchen, das ein halber Mann war. Das nicht viel älter war als ihre Tochter, nur ein paar Jahre vielleicht. Aber das jünger gewesen war als Miriam, als ihm Unvorstellbares angetan wurde. Das in einem Kloster Schutz gesucht hatte. Und dann … Ob sie Cordula anrufen sollte? Ob ihr die weiterhelfen konnte? Cordula und sie hatten gemeinsam mit dem Medizinstudium begonnen, aber dann hatte sich die Freundin nach dem ersten Semester völlig überraschend für eine Karriere bei der Polizei entschieden und war dort bei der Meldestelle für Kinderprostitution und Sextourismus gelandet, einer der allerhärtesten Abteilungen. Vor zwei Jahren war sie einmal bei Cordula ins Büro geschneit, einfach so, voll guter Laune, sie hatte im Haus zu tun gehabt. Cordula und ihre Kollegen waren vor einem flimmernden Bildschirm gesessen, nach einer Razzia, und hatten gerade eine neue Diskette eingelegt. »Lisa, schau dir das nicht an, ich komme gleich runter in die Cafeteria«, hatte Cordula gesagt. Aber sie war dagestanden wie angewurzelt. Auf dem Bildschirm war nur das Gesicht eines Kindes zu sehen gewesen, es war nicht einmal ganz eindeutig gewesen, ob Bub oder Mädchen. Fünf Jahre alt vielleicht, ein kleines pausbäckiges Gesicht. Das Kind hatte mit weitaufgerissenen Augen in die Kamera gestarrt, dann hatte es sich im Raum umgeschaut, als ob es ein Versteck suchen würde, wo es sich verkriechen konnte. Aber es war nur ein schmuddeliges zerwühltes Bett in dem Zimmer gestanden. Und dann war die Türe aufgegangen…
Später waren sie dann in der Cafeteria gesessen, und Cordula hatte einen Milchkaffee getrunken, ihr selbst war so elend gewesen, dass sie nicht einmal einen Schluck Wasser hätte hinunterwürgen können. »Wieso tust du dir das an?«, hatte sie Cordula nach langen Minuten gefragt. Und Cordula, die nicht verheiratet war und auch nie einen Freund gehabt hatte, wenigstens keinen, von dem irgendjemand wusste, hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Ich muss einfach!« Dabei hatten sie es dann belassen. Sie hatte nicht weitergefragt. So oft stellen wir keine Fragen, dachte Lisa. Weil wir ahnen, dass wir die Antwort gar nicht hören, gar nicht wissen wollen.
Aus dem Nebenzimmer ertönte ein Poltern, dann ein Quieken. Lisa stand auf, um wenigstens Walter den Hamster zu retten.
*
Der Vormittag zog sich wie Strudelteig. Unglaublich, was so ein Tod an Ermittlungen und Arbeit auslöste! Liste und Aufgabengebiete der katholischen
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