Kaltes Blut
wählte Helga Kautz die Nummer von Maren, einer Schulfreundin, bei der Selina in der Vergangenheit des Öfteren übernachtet hatte, in letzter Zeit allerdings kaum noch, da Marens Bekanntschaften und Lebensstil ihr nicht zusagten. Außerdem hatte Selina erzählt, dass Maren zu kiffen angefangen habe, mindestens eine Schachtel Zigaretten am Tag rauche und inzwischen regelmäßig zur Flasche greife. Aber es war ein Strohhalm, an den sie sich jetzt klammerte, auch wenn sie wusste, dass dieser Strohhalm ihr keinen Halt geben würde. Sie hatte Marens Mutter am Apparat. Ob Selina mit Maren zusammen war, konnte sie nicht sagen, nur dass Maren über Nacht bei einer Freundin geschlafen habe und immer noch dort sei. Helga Kautz bedankte sich und legte den Hörer auf.
Maren war die letzte Hoffnung gewesen, eine Hoffnung, die sich jetzt zerschlagen hatte. Wie hätte es auch anders sein sollen, war doch der Kontakt zwischen den beiden in den letzten Monaten immer weniger geworden, was einzig und allein an der oft unberechenbaren Art von Maren lag; mal bekam sie aus heiterem Himmel Wutausbrüche, dann wieder verfiel sie scheinbar grundlos in tiefste Melancholie und weinte stundenlang, sie sagte, Selina sei ihre einzige wahre Freundin, erzählte im nächsten Augenblickaber anderen Mädchen haarsträubende Lügengeschichten über Selina. Vor einem halben Jahr war Maren mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, vor drei Monaten folgte ein schwerer Nervenzusammenbruch, sie litt unter Depressionen, und das Letzte, was Helga Kautz erfahren hatte, war, dass die Ursache für Marens Depressionen eben in übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum bestand. Obwohl die Marens Eltern angesehene Bürger im Ort waren, wusste Helga Kautz von Selina, dass sie sich selbst hin und wieder einen Joint drehten, einmal sogar vor den Augen der Mädchen, und es demnach wenig verwunderlich erschien, dass Maren es ihnen nachmachte und dabei eine Grenze überschritt, eine Grenze, die sie nicht kannte.
Doch darüber wollte Helga Kautz jetzt nicht nachdenken, zu sehr beschäftigte sie die Frage, wo Selina war. Sie hatte gestern, bevor sie in den Reitclub fuhr, gesagt, sie übernachte bei einer Freundin, aber nicht, bei welcher. Sie hatte jedoch versprochen, spätestens um neun heute Morgen zu Hause zu sein, weil sie um zehn einen wichtigen Zahnarzttermin hatte. Und jetzt wusste keiner, wo sie war, schien sie wie vom Erdboden verschluckt. Und ihren Freundinnen aus dem Reitclub hatte sie erzählt, sie fahre nach Hause. Das war es, was ihr am meisten Kopfzerbrechen und auch Angst bereitete. Warum hatte Selina gelogen? Und wen hatte sie angelogen? Solange sie zurückdenken konnte, war eine der Tugenden von Selina, immer die Wahrheit zu sagen. Und jetzt? Wo war sie? War ihr etwas zugestoßen? Die furchtbarsten Gedanken schossen Helga Kautz durch den Kopf, Gedanken, die sie nicht denken wollte, die aber immer stärker von ihr Besitz ergriffen.
Höllenqualen.
Helga Kautz hatte ein paarmal versucht, ihren Mann zu erreichen, doch er war auf einer Baustelle und hatte sein Handy wie so oft ausgestellt, nur seine Mailbox war an. Sie rief mehrere Male kurz hintereinander an, hinterließ eine Nachricht nach der andern und bat dringend um Rückruf. Um halb eins meldete er sich schließlich. Und nachdem ihm seine Frau stockend und unter Tränenerzählte, was los sei und welche Sorgen sie sich mache, setzte er sich sofort in sein Auto und raste nach Hause. Um Viertel nach eins fand er eine völlig aufgelöste Frau vor, die immer wieder nur stammelte: »Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen, hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen!«
Peter Kautz versuchte, sie zu beruhigen, nahm sie in den Arm, doch sie zitterte trotz der Wärme. Er telefonierte noch einmal mit all jenen, mit denen Selina gestern und in letzter Zeit Kontakt hatte, vergeblich. Er zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, fuhr nach den fruchtlosen Telefonaten sämtliche Straßen in Okriftel und Eddersheim ab, ohne eine Spur von der sonst so zuverlässigen Selina zu finden.
Um halb drei ging er die wenigen Meter zum Spielplatz, wo Selina sich schon als kleines Kind vergnügt und sich später oft mit ihrem Freund aufgehalten hatte. Nichts. Um fünf nach drei, nachdem alle Anrufe und alle Suche vergeblich waren, nahm er mit fahrigen Fingern (die Angst kroch wie eine kalte Faust in ihm hoch und presste sich immer fester gegen seinen Magen) den Telefonhörer in die Hand und rief bei der
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