Kaltes Blut
entgegnete mit aufgebrachter Stimme: »Nein, sie ist nicht ausgerissen! Wir haben noch zwei weitere Kinder,und Selina liebt ihre Geschwister über alles. Und noch was, wir führen eine harmonische Ehe und ein glückliches Familienleben, falls Sie das interessiert. Ich weiß genau, was Sie denken, nämlich dass das die meisten Ehepaare und Eltern behaupten. Aber ich sage die Wahrheit. Meine Frau und ich sind seit siebzehn Jahren verheiratet. Uns geht es finanziell sehr gut, und Selina hätte nie einen Grund gehabt, einfach abzuhauen. Vor allem hat sie mit uns, das heißt vorwiegend mit meiner Frau, bisher über all ihre Probleme gesprochen.«
»Fehlt irgendetwas aus ihrem Zimmer? Hat sie Geld?«
»Nein«, meldete sich Helga Kautz jetzt zu Wort, die bisher regungslos dagesessen und aufmerksam und doch besorgt das Frage- und Antwortspiel verfolgt hatte. »Selina ist gestern Nachmittag wie üblich in den Reitclub gefahren, ohne irgendetwas sonst mitzunehmen. Und sie bekommt ein ihrem Alter entsprechendes Taschengeld. Außerdem zahlen wir jeden Monat einen bestimmten Betrag auf ein Konto ein, auf das sie allerdings erst ab ihrem achtzehnten Geburtstag Zugriff hat.«
»Und was ist mit einem Freund?«
»Sie hatte einen, bis vor etwa drei Monaten. Sie fühlte sich noch zu jung für eine feste Beziehung.«
»Haben Sie schon mit ihm gesprochen? Ich meine, heute.«
»Nein, wieso?«, fragte Peter Kautz mit gerunzelter Stirn.
»Wie ist sein Name?«
»Dennis Kolb.«
»Wie lange waren er und Selina zusammen?«
»Ein, anderthalb Jahre, genau weiß ich es nicht. Aber sie kennen sich schon viel länger.«
»Wie alt ist er?«
»Siebzehn.«
»Und wie hat er die Trennung verkraftet?«
»Du meine Güte, woher sollen wir das wissen?! Das war eine Sache zwischen Selina und ihm. Wir haben uns da nicht eingemischt. Selina ist psychisch und emotional sehr reif und weißziemlich genau, was sie will. Sie ist einfach ein besonderes Mädchen, in jeder Beziehung. Was sie macht, macht sie perfekt. Sie ist vor vier Jahren in den Reitsportclub eingetreten und war schon mit dreizehn hessische Vizemeisterin im Voltigieren. Und sie kann hervorragend Klavier spielen. Und wir haben sie zu nichts von alledem gezwungen, sie hat alles aus freien Stücken gemacht, weil sie es wollte. Sie ist unglaublich ehrgeizig. Deshalb sehen weder ich noch meine Frau auch nur den geringsten Grund, weshalb sie einfach so verschwunden sein sollte. Genügt Ihnen das? Außerdem würde sie nie im Leben ihr Pferd einfach aufgeben. Wir haben es ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt.«
»Haben Sie die Telefonnummer von diesem Dennis Kolb?«, fragte der Beamte, als hätte er die letzten Worte gar nicht mehr mitbekommen.
»Nicht im Kopf. Aber er steht im Telefonbuch. Sein Vater heißt Robert, sie wohnen Im Höhlchen.«
Der Beamte nahm das Telefonbuch, schlug es auf und suchte die Nummer. »Aha, hier haben wir’s ja schon. Dann möchte ich Sie doch bitten, mal bei den Kolbs anzurufen.«
Peter Kautz tippte die Nummer ein und meldete sich, als am andern Ende abgenommen wurde. Die Mutter von Dennis war am Apparat. Er war zu Hause und kam kurz darauf ans Telefon.
»Hallo, Dennis, hier Kautz. Ich habe eine Frage: Hast du gestern zufällig Selina gesehen?«
»Warum?«
»Dennis, bitte, sag nur ja oder nein.«
»Ja, gestern Abend. Was ist denn los?«
»Wo habt ihr euch gesehen?«
»Am Spielplatz. Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten, dann bin ich nach Hause gefahren.«
»Und um welche Zeit war das?«
»Kurz vor halb elf. Selina hatte nicht viel Zeit, sie hat gesagt, sie müsste nach Hause.«
»Sie hat dir gesagt, sie müsste nach Hause? Hat sie das wirklichgesagt?«, fragte Peter Kautz sichtlich erregt. »Sie hat gesagt, sie müsste nach Hause?«, wiederholte er die Frage noch einmal.
»Ja, ganz bestimmt. Um was geht’s denn?«
»Sie ist verschwunden. Angeblich wollte sie bei einer Freundin übernachten. Hat sie dir gegenüber nichts davon erwähnt?«
»Nein, ich schwöre es. Aber sie ist noch einen Moment auf der Bank sitzen geblieben, nachdem ich losgefahren bin. Glauben Sie, dass ihr etwas passiert ist?«, fragte er besorgt.
»Das wissen wir nicht. Wir sind gerade bei der Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Es könnte sein, dass die Polizei sich …« Bevor er zu Ende sprechen konnte, nahm ihm der Beamte den Hörer aus der Hand.
»Herr Kolb, ich werde gleich mit einem Kollegen bei Ihnen vorbeikommen und Ihnen ein paar Fragen
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