Kaltes Fieber - Ein Lucas-Davenport-Roman
geführt, dass die erforderlichen realen Abläufe des Gesamtvorgangs vernebelt worden waren. Er hatte diesen Farbstreifen auf dem Boden überprüfen müssen, er hatte ihn aufwischen müssen, er hatte all die kleinen Dinge erledigen müssen, die die Götter unten im Flur nicht berücksichtigt hatten. Er hielt sich vor Augen, dass die Götter unten im Flur durchaus clever waren, aber sie saßen nun einmal unten im Flur in Knastzellen, weil sie irgendwann zu sorglos gewesen waren …
Er hatte gedacht, ein solcher Fehler, das Übersehen eines so wichtigen Punktes, könnte ihm niemals passieren, denn dazu sei er viel zu clever - und nun musste er erkennen, dass es eben doch geschehen konnte. Die einzelnen Handlungsschritte, der Zwang zu exaktem Vorgehen, konnten einem also doch über den Kopf wachsen. Beim nächsten Mal würde er einen schriftlichen Ablaufplan dabeihaben. Wenn es so weit war, dass er aus Lust am Foltern und Töten mordete, würde sich eine Mischung aus nüchtern praktizierter Wissenschaft und kunstvoll ausgeführter Leidenschaft ergeben. Auf keinen Fall wollte er unten im Flur enden - dann war es besser, in den Tod zu gehen.
Die Nacht war warm und diesig, mit leichtem Bodennebel, und während der Killer durch die Prärie fuhr, kündigten sich die kleinen Städte und Dörfer zunächst als sanftes Glühen am Himmel an, als Reflexion der Straßenbeleuchtung und Leuchtreklamen vom Bodennebel, dann als vereinzelte Lichtpünktchen, schließlich als kalte blauweiße und orangeweiße Gitternetzpunkte. Er fuhr langsam durch die stillen Ortschaften, vermied jedes Risiko, Geschwindigkeitsbeschränkungen zu überschreiten.
Fünfundvierzig Minuten nach dem Mord bog er in eine Zufahrt bei einer historischen Gedenktafel ein. Er fuhr täglich an dieser Stelle vorbei und hatte noch nie einen Wagen dort halten sehen. Die Zufahrt führte in einer lang gezogenen Kurve durch eine schmale Allee aus Bäumen und Büschen, so dass der Wagen von der Hauptstraße aus nicht zu sehen war.
Der Killer stieg aus und öffnete den Kofferraum. Charlies Leiche lag auf den quer zum Körper ausgebreiteten Teilstücken der Eisenkette. Er schlang die Kettenstücke um die Leiche und verband die losen Enden mit vorbereiteten fünfzehn Zentimeter langen Aluminiumdrähten.
Er arbeitete zügig im schwachen Licht der Kofferraumbeleuchtung, horchte auf Wagengeräusche auf dem Kiesweg, aber er wurde während der fünf Minuten hastiger schwerer Arbeit nicht gestört. Er war allein mit dem toten Mann, und plötzlich spürte er, wie sich seine Nackenhaare in einem leichten Anfall abergläubischer Furcht aufrichteten. O Gott, wenn Charlie jetzt die Augen öffnete und ihn anstarrte …
Er kicherte. Zum Teufel, wenn das passierte, würde er einen Herzanfall bekommen. Aber Charlie war so tot wie ein Karpfen auf dem Trockenen, und seine Augen blieben geschlossen. Der Killer schloss den Kofferraumdeckel und fuhr davon, weg von der historischen Gedenktafel, von deren inhaltlicher Bedeutung er auch jetzt noch keine Ahnung hatte.
Die Brücke war nur eine halbe Meile entfernt. An der Hauptstraße bog er links ab und fuhr langsam über einen sanften Hügel. Ein Wagen kam auf ihn zu. Er sah, wie er auf der Straßenmitte die Brücke überquerte, sich danach wieder in die rechte Fahrspur einordnete und kurz darauf links in eine Nebenstraße abbog. Der Killer fuhr mit vierzig Meilen pro Stunde weiter, schaute immer wieder in den Rückspiegel
und nach vorne in die Weite der Landschaft, ob irgendwo Autoscheinwerfer auftauchten.
Als nichts zu sehen war, gab er Gas, fuhr den Hügel hinunter zur Brücke; stoppte in der Mitte, öffnete den Kofferraum, trat zum Brückengeländer und blickte nach unten. Manchmal stellten Angler ihre Wagen am Fuß der Brücke ab; dort war Platz für zwei Fahrzeuge. Nachts hatte er allerdings noch nie Wagen dort gesehen, und so war es auch jetzt …
Er ging zurück zum Wagen und zerrte die Leiche aus dem Kofferraum. Mit dem zusätzlichen Gewicht der Eisenkette musste er alle Kraft aufwenden, um sie zum Brückengeländer zu schleifen. Er drückte die Leiche rückwärts gegen das Geländer, legte die Beine in den Kniekehlen darüber, trat dann zurück, um den Oberkörper anzuheben.
Die Beine glitten vom Geländer. Der Atem des Killers ging jetzt stoßweise, und er spürte, wie leichte Panik in seiner Kehle aufstieg: ein unmögliches Unterfangen. Er schaffte es nicht, die Leiche aus dieser Position so weit hochzustemmen, dass sie
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