Kaltes Fleisch. Ein Mira-Valensky-Krimi
Ordnung war. Vorgeschobener Grund für das Telefonat war die Think-Tank-Sitzung, aber es dauerte keine zwei Minuten, und er war beim eigentlichen Thema. In einem früheren Leben musste er Staubsaugervertreter gewesen sein, so flüssig verkündete er seine reinen Wahrheiten. »Nur, damit Sie sich keine unnötigen Gedanken machen. Ich freue mich übrigens sehr, Sie zu unserem kleinen Kreis der Zukunftsdenker zählen zu können. Generaldirektor van der Fluh hat persönlich darauf bestanden, Sie hinzuzuziehen. Wirklich. Gerade deswegen. Es ist mysteriös, sicherlich. Ich habe gehört, Sie machen sich Sorgen und fragen nach. Der Alltag einer Fleischerin ist einigermaßen eintönig, selbst bei Ultrakauf, das sehen Sie doch sicher auch so? Jedenfalls kann sie spontan eine Kreuzfahrt gemacht haben, oder sie hat einen Mann kennen gelernt, sie war ja Witwe und noch recht unternehmungslustig, wie ich gehört habe. Hoffentlich ist das Glück auf Dauer, das weiß man ja nie. Jedenfalls aber genießt sie wohl momentan ihr Glück.«
Ich versuchte, seinen Wortschwall zu unterbrechen. »Warum hat sie dann niemandem etwas davon erzählt? Ihren Kindern nicht und ihren Freundinnen auch nicht?«
»Das ist es ja, was ich meine: Einmal ausbrechen aus dem Alltag. Immer hat sie das getan, was man von ihr erwartet hat, jetzt macht sie einmal nur das, was sie will. Wenn sie zurückkommt, wir werden einen Weg finden, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verliert. Wir sind da sehr kulant, auch wenn ihr Verhalten der Firma gegenüber nicht eben kooperativ ist.«
Die rote Karin war für Überraschungen gut, das hatte ich erlebt, als sie im Alleingang versucht hatte, aus Hellers Angriff Kapital zu schlagen.
»Was ist mit dem Mord? Auch ganz normal? Der Unfall im Lager? Der Überfall?«
Der Marketingmann holte tief Luft. »Zufälliges örtliches Zusammentreffen von Ereignissen, die für sich gesehen – natürlich abgesehen von dem Mord – wenig spektakulär sind. Warum, glauben Sie, hat sich die Presse nie für den Überfall interessiert? Warum hat die Polizei das Ganze zu den Akten gelegt? Weil derartige Bagatell-Überfälle häufig sind. Wenn niemand zu Schaden kommt, ist alles halb so wild. Das Geld kann man ersetzen. Nicht, dass ich nicht für harte Strafen wäre, aber meist werden die Täter später ohnehin geschnappt. Irgendwann einmal können sie nicht fliehen, und dann gestehen sie eine Menge Überfälle. Besser, die Kunden nicht zu verunsichern, noch dazu, wo ihnen keine Gefahr droht. Die Gefahr droht uns und den Tankstellenpächtern und anderen Unternehmungen, aber wir wissen, wie damit umzugehen ist. Was den Unfall im Lager angeht: Sehr bedauerlich, wahrscheinlich war wieder einmal ein Stapel schlecht aufgebaut. Man wird es nicht mehr beweisen können. Erst gestern wieder ist Mehl aus einem Lagerregal im 21. Bezirk gefallen – da stand zum Glück niemand darunter. Es gibt eine Menge Sicherheitsschulungskurse bei uns, aber vor menschlichem Versagen ist eben niemand sicher. Außerdem hätte sich die Frau dort nicht aufhalten dürfen. Wir wissen, warum wir solche Verbote verhängen.«
Ich war gespannt, wie er versuchen würde, sich beim Mord an Heller herauszureden. »Der tote Regionaldirektor«, sagte ich bloß und wartete.
Für einen Moment war es tatsächlich still am anderen Ende der Leitung. »Tragisch«, erwiderte er dann, »aber ich glaube nicht, dass die Sache mit Ultrakauf zu tun hat. Vielleicht hat jemand von den anderen Unglücksfällen gehört und deswegen den Ultrakauf als Tatort gewählt. Quasi um alle auf eine falsche Fährte zu lenken.«
»Und warum hätte Heller ermordet werden sollen?«
»Er war ein junger Mann: Ich würde auf Eifersucht oder Rache tippen. Das spielt bei den meisten Mordfällen eine zentrale Rolle, das Arbeitsleben hingegen so gut wie nie. Da gibt es Fakten. Statistiken.« Er lachte abgehackt, es erinnerte mich ein wenig an die Töne, die mechanische Rechenmaschinen beim Addieren von sich geben. »Insgesamt betrachtet haben wir es beim Ultrakauf in der Mayerlinggasse mit einer statistischen Zufallshäufung zu tun. Nichts Besonderes also, über das es sich zu berichten lohnte. Wer will schon etwas über Statistik hören? Oder lesen?«
Wir verabschiedeten uns höflich, und ich versprach noch einmal, zu dem Think-Tank-Treffen zu kommen.
Die Kauf-AG war daran interessiert, dass über die Vorfälle in der Mayerlinggasse so wenig wie möglich bekannt wurde. Das war verständlich. Aber ich ließ mir
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