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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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vor wie ein Stichwortgeber für
eine Doppelrolle, der Dr. Catherall zu Sätzen verhalf, mit der sie
Knalleffekte erzielen konnte. »Das werden Sie mir ebenfalls erklären
müssen.«
    »Kolchizin wird aus den Samen einer Pflanze gewonnen, die
Herbstzeitlose heißt, seltsamerweise auch bekannt als Herbstkrokus,
obwohl sie nicht eigentlich ein Krokus ist. Trotz der langen Zeit sind
immer noch Spuren des Samens in ihrem Magen. Meine stärkste
Vermutung – und es ist wirklich nur eine Vermutung –
ist, dass sie irgendwie genügend Herbstzeitlosen zu sich genommen hat,
um eine tödliche Dosis Kolchizin zu erreichen.«
    »Versehentlich?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich wüsste wirklich nicht, wie.
Zunächst einmal wachsen im Umkreis von siebzig Kilometern um ihren
Fundort nirgendwo Herbstzeitlosen. Und außerdem befanden sich in ihrem
Mageninhalt genügend andere Substanzen, dass ich einigermaßen sicher
sagen kann, die Pflanze wurde ihr in Form von Kuchen verabreicht.«
    Lapslie brauchte ein Weilchen, um vollständig zu begreifen,
was ihm da erzählt wurde. Er verstand die einzelnen Worte, aber sie in
die Form eines Satzes zusammenzufügen, zumal eines so gewundenen, wie
Dr. Catherall sie bevorzugte, das versetzte ihn in Gefilde, in die er
wirklich nicht geraten wollte. Trotz der Kälte des Raumes verspürte er
eine prickelnde Hitze im Genick und in den Oberarmen. Hier handelte es
sich um Vorsatz. Schlimmer noch, es war genau durchgeplant, als eine
Art privater Veranstaltung.
    »Reden wir Klartext, Doktor«, sagte er schließlich. »Wissen
Sie, was Sie da sagen?«
    »Ja, das weiß ich«, sagte sie. »Eine Überdosis Kolchizin in
der Größenordnung, um die es, wie ich glaube, hier geht, ist
außerordentlich schmerzhaft und langwierig. Vorsätzlich verabreicht,
grenzt sie an Folter, würde ich sagen.«
    Schweigen erfüllte den Raum.
    »Das hier wird jetzt zu einem Mordfall«, sagte Lapslie.

7
    B eim Erwachen aus einem tiefen Schlaf,
verstört durch Träume von einem langen Esstisch, um den gesichtslose
Gestalten in beängstigender Stille saßen, tauchte Daisy Wilson durch
eine Serie abgelegter Identitäten empor wie ein Ballon, der durch
dichte Wolkenschichten aufsteigt.
    Für eine Weile war sie Alice Connell, eine ehemalige
Bibliothekarin in Epping, die, abgesehen von einer weißen Katze, allein
in einem kleinen Haus in der Nähe eines Kanals lebte. Sie ging
nachmittags gern am Kanal spazieren, nur um andere Menschen sehen und
ihnen zulächeln zu können. Manchmal spazierte auch die Katze mit. Dann
verschwand Alice, und sie war Jane Winterbottom, eine versessene
Sammlerin viktorianischer Haarbürsten, die ihre Kollektion in ihrer
Erdgeschosswohnung in einem viktorianischen Mietshaus in Chelmsford
verwahrte und niemanden hatte, dem sie sie zeigen konnte. Auch Jane
verblasste in der Ferne, und sie war Violet Chambers, eine verwitwete
alte Dame, die in einem Haus lebte, das zu groß war für sie, die zu
stolz war, sich mit ihren Nachbarn anzufreunden, die an ihrem
Wohnzimmerfenster saß und zuschaute, wie die Welt an ihr vorbeizog. Und
dann war auch Violet verschwunden, und sie war Daisy Wilson, eine alte
Frau mit Geschwüren an den Beinen, die von ihren glorreichen Tagen als
Tänzerin in den Shows im West End träumte.
    Und als Daisy aus dem Schlaf aufgetaucht war und die Kokons
ihrer früheren Existenzen von ihr abfielen, da erinnerte sie sich
undeutlich, dass es auch noch andere gegeben hatte, noch andere vor
Alice Connell. Die Namen waren vergessen, sie konnte nur noch
verschwommene Umrisse gestohlener Erinnerungen ausmachen: eine alte
Straße mit Kopfsteinpflaster irgendwo im Süden Londons, mit verrosteten
Straßenbahnschienen in der Mitte; ein vertrauter Platz in einem Pub,
mit einem halben Glas Irish Stout auf dem Tisch; ein graues Zimmer mit
einem grauen Eisenbett; eine hellblaue Eiderdaunenjacke; ein
Schildpattkamm; ein Herd. Keine Gesichter, keine Namen, nur flüchtige
Fetzen von Dingen, einst gesehen und halb erinnert. Fragmente aus zu
vielen Leben; ein Haufen verschiedener Puzzleteilchen, zu Boden
gefallen und durcheinandergemischt, die sich nie wieder ordnen ließen.
    Und hinter alledem ein langer Esstisch, gedeckt mit Tassen aus
chinesischem Knochenporzellan, und dann diese stummen Gestalten. Diese
stummen, wartenden Gestalten.
    Sie blieb noch eine Weile liegen, während das Sonnenlicht auf
ihrer Zimmerdecke spielte, ließ ihren Geist müßig durch all diese
Fragmente gleiten, bis sie sich wieder

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