Kaltes Gift
dachte.
Violet Chambers war irgendwann in einer Zeitspanne vor neun Monaten
gestorben. Als die Menschen fröhlich Weihnachtslieder gesungen und
Geschenke ausgetauscht hatten, als sie am Fernseher die Rede der Queen
verfolgt oder die Folgen einer Truthahnvöllerei ausgeschlafen hatten,
war Violet Chambers' Körper langsam verrottet, war der Stoff, aus dem
er gemacht war, wieder zu Natur geworden. Kleine Tiere waren durch ihre
Eingeweide gekrochen.
Wer also hatte die Karte geschickt?
Nachdem sie eine Weile in einem Pappkarton herumgekramt hatte,
kam Mrs. Halloran triumphierend zurück, nicht nur mit dem
Weihnachtsgruß, sondern mit noch einer weiteren Postkarte. »Die hier
hatte ich ganz vergessen«, sagte sie und wedelte damit vor dem Gesicht
ihres Mannes herum. »Die kam so etwa eine Woche, nachdem sie weg war.«
Lapslie sah sich zuerst die Weihnachtskarte an. Das Bild auf
der Vorderseite, massenhaft produziert für irgendeine
Wohlfahrtseinrichtung, war so überaus und generell weihnachtlich, dass
es fast lachhaft war. Da verbrachten nun Leute Jahre mit dem Studium
grafischer Kunst, überlegte er, in der hochgesteckten Hoffnung, einst
in der Werbebranche oder bei einem Magazin tätig zu sein, und
produzierten dann schließlich am laufenden Band Bilder von Rotkehlchen,
Schneemännern und verschneiten Zweigen. Wahrscheinlich schon im Juli,
damit die Karten rechtzeitig fertig wurden. Was geschah eigentlich mit
diesen Menschen? Starben sie irgendwann an gebrochenem Herzen, weil
ihre Träume von einer großen Karriere zerplatzt waren, oder begingen
sie schließlich Selbstmord, deprimiert von all der
Fließband-Festlichkeit, die sie herstellen mussten? Er würde Dr.
Catherall fragen, ob sie ein Überangebot an toten Grafikern in ihrer
Leichenhalle hatte, wenn es Herbst wurde.
Bei dem Gedanken an Dr. Catherall fiel ihm ein, dass er mit
ihr reden musste, wegen der Ergebnisse der Labortests, die sie für die
Gewebeproben von Violet Chambers' Leiche angeordnet hatte.
Das einzig Handschriftliche im Innern der Weihnachtskarte war
eine Signatur unter den gedruckten banalen Wünschen. Die Unterschrift
war kursiv, gerundet, geschrieben mit einem Füllfederhalter. Die andere
Postkarte war allem Anschein nach mit demselben Füllfederhalter
geschrieben. Es war eine glatte weiße Karte ohne Bild darauf.
Die Adresse der Hallorans stand auf einer Seite, und die
Nachricht auf der anderen Seite lautete einfach nur: »Lieber David,
liebe Jean. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde, aber ich
fürchte, es könnte einige Zeit dauern. Ich habe das Haus vermietet,
solange ich weg bin – ich scheue mich, es leer stehen zu
lassen, und so weiß ich wenigstens, dass sich jemand darum kümmert, und
ich habe außerdem ein kleines (dringend notwendiges!) Nebeneinkommen.
Alles Gute! Violet.«
Die Briefmarke auf der Vorderseite war eine gängige
Sondermarke, der Stempel darauf bis zur Unkenntlichkeit verwischt.
»Und das ist der einzige Kontakt, den Sie mit ihr hatten, seit
sie fort ist?«
»Ganz richtig«, sagte Mrs. Halloran.
»Was ist mit der Handschrift. Ist das die Schrift von Violet
Chambers?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich glaube, sie hat uns
nie geschrieben, solange sie hier war.«
Lapslie reichte Emma die beiden Karten. Während sie sie
begutachtete, fragte Lapslie: »Sie haben wohl nicht zufällig auch den
Umschlag aufbewahrt, in dem die Weihnachtskarte gekommen ist?«
»Warum sollten wir?« Mr. Halloran war sichtlich verblüfft.
»Ja, natürlich, warum auch.« Er machte Anstalten, sich zu
erheben. »Nun, wir wollen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.
Vielen Dank für den Tee.«
»Ein paar Fragen noch, wenn Sie erlauben«, sagte Emma, die
noch saß. Lapslie ließ sich schwer wieder zurücksinken. »Haben Sie
vielleicht irgendwelche Fotos von Violet Chambers?«
Mrs. Halloran schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Ich
wüsste auch keinen Grund, weshalb wir welche haben sollten.«
Emma nickte. »Wie sah sie eigentlich aus? Gab es etwas
Auffälliges an ihr? Besondere Kennzeichen?«
Während die beiden Hallorans überlegten, nickte Lapslie Emma
zu. Gute Frage.
»Sie hatte eine Narbe«, sagte Mrs. Halloran schließlich.
»Am Hals«, bestätigte Mr. Halloran. Er tippte sich an den
Hals, direkt unter dem Adamsapfel. »Genau hier.«
»Danke«, sagte Lapslie. Er schaute zu Emma hinüber. »Wenn es
weiter nichts gibt …?«
Sie schüttelte den Kopf, und sie gingen, auch wenn es ein
wenig dauerte,
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