Kaltes Gift
gefangen hatte. Daisy Wilson.
Sie war Daisy Wilson, und sie richtete sich gerade ein neues Leben ein,
in einer kleinen Stadt an der Ostküste, die Leyston-by-Naze hieß. Sie
brauchte eine Wohnung, sie brauchte neue Freunde, und sie brauchte
etwas Geld. Das waren die Prioritäten des Tages.
Schließlich stand sie auf und blickte aus dem Fenster ihres
Hotelzimmers. Es war noch früh. Es war kaum eine Grenzlinie zwischen
dem Wasser und den Wolken auszumachen; das eine verschwamm mit dem
anderen zu einem ebenmäßigen Gewebe aus Grau. Lediglich ein großes
Containerschiff, das winzig klein von rechts nach links kroch,
kennzeichnete den Verlauf des Horizonts.
Daisy wusch sich, zog sich an und ging hinunter in das
Restaurant, wo sie am Abend zuvor gegessen hatte. Die Tische waren
abgeräumt und fürs Frühstück neu eingedeckt worden, mit kleinen
Töpfchen Marmelade, Tellerchen mit Butter und Stahlbesteck, das sich
schwer von dem weißen Leinen abhob, auf dem schemenhaft noch immer alte
Kaffeeringe sichtbar waren. Kleine Schilder zeigten an, welche Tische
für welche Zimmer bestimmt waren. Sie suchte sich den Tisch für Zimmer
241 – gedeckt für eine Person – und setzte sich.
Wenig später kam ein müdes junges Mädchen in schwarzem Rock und weißer
Bluse auf sie zu.
»Guten Morgen, Madam. Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
Daisy überlegte einen Moment. War sie ein Tee- oder ein
Kaffeemensch? »Tee, bitte«, sagte sie schließlich.
»Und möchten Sie etwas Warmes zum Frühstück?«
Kein Zögern diesmal. »Nein danke. Einfach nur Toast, bitte.«
»Fruchtsaft?«
»Ja bitte – Grapefruit, wenn Sie welchen haben.«
»Wenn Sie Müsli oder so was möchten, das steht auf dem Tisch
drüben am Fenster.«
»Danke, meine Liebe.«
Die Kellnerin ging. Daisy wartete auf ihren Toast und
betrachtete die anderen Hotelgäste. Das Paar von gestern
Abend – der Mann in seinem Anzug und die Frau mit dem
Schal – beendeten soeben ihr Frühstück. Sie schienen immer
noch kein Gesprächsthema gefunden zu haben. Der rotgesichtige Mann mit
der Mütze war nicht da, aber eine vierköpfige Familie –
Mutter, Vater und zwei Kinder, beides Mädchen – veranstalteten
ein Riesentheater, tauschten Messer aus, butterten Toast, schnitten
Gebratenes in Häppchen, damit die Kinder es essen konnten. Die Mädchen
waren völlig gleich gekleidet: weißer, mit grünen Blättern und Ranken
gemusterter Stoff, wie man ihn als Vorhang verwenden würde. Daisy
fragte sich, ob die Mutter die Kleider wohl selbst genäht hatte.
»Ihr Toast, Madam. Der Tee kommt gleich.«
Die Kellnerin war wieder neben Daisy erschienen. Sie stellte
den Toast auf den Tisch und eilte dann hinüber, um der Familie bei dem
Chaos zu helfen, das sie anrichteten.
Daisy spürte ein Prickeln im Nacken. Als sie sich beiläufig
umwandte, sah sie eine ältere Frau das Restaurant betreten. Sie war
elegant, in einem langen grünen Kleid, das in der Taille durch einen
Gürtel gerafft war, und darüber eine lange Wolljacke. Die Halskette,
die die Runzelhaut ihres Halses umschloss, das konnten Perlen sein.
Daisy hätte näher herangehen müssen, um es genau festzustellen.
Daisy erwog Möglichkeiten der Annäherung quer durch den Raum.
Im Grunde ihres Herzens wusste sie zwar, dass die Frau wahrscheinlich
auf Urlaub war, was sie als potenzielle Jagdbeute mehr oder weniger
ausschloss, doch sie konnte sich einfach nicht bremsen. Es war wie bei
den Löwen, die man in Dokumentarfilmen sah: Eine Antilope schreitet
vorüber, und die Löwen blicken auf, verfolgen die Bewegung des Tieres,
kalkulieren den minimalsten Kraftaufwand und den günstigsten Abstand
zwischen sich und der Beute. Es spielt keine Rolle, dass sie gar nicht
hungrig sind, es spielt nur eine Rolle, dass sie Löwen sind, und was da
vorübergeht, ist eine Antilope. Instinkt ist übermächtig.
Ihr Herz schlug ein bisschen schneller, als die Frau auf einen
Tisch mit einem Gedeck zusteuerte, dann jedoch langsam daran
vorbeiging, zu einem Tisch, der für zwei gedeckt war. Die Frau setzte
sich, und wenige Augenblicke später betrat ein Mann in cremefarbenem
Jackett mit einem Stock in der Hand den Raum und gesellte sich zu ihr.
Wahrscheinlich besser so. Man sollte nie das eigene Nest
beschmutzen, hieß es nicht so?
Der Tee kam, sie goss sich eine Tasse ein und atmete den
vollen, aromatischen Duft. Es war eine Mischung, halb Ceylon, halb
Darjeeling, soweit Daisy feststellen konnte. Mit Tee kannte sie sich
aus. Schließlich
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