Kaltes Gift
Gewächse zurückzuschneiden. Das hatte ihr
Seelenfrieden verschafft. Sie hatte sich ruhig gefühlt – in
sich ruhend.
Sie ließ den kleinen Park hinter sich und steuerte auf das
Ende der Hauptstraße zu.
Die Straße war lang, gesäumt von allen möglichen Geschäften.
Jedes zweite schien Dinge zu verkaufen, die mit dem Strand zu tun
hatten: Badesachen, Zuckerstangen, aufblasbare Schwimmringe und
Luftmatratzen, Handtücher – jegliches Zubehör für einen Tag am
Meer. Und zwischen all diesen urlaubsspezifischen Läden waren die
üblichen Geschäfte, die man in jeder kleinen Stadt fand: Zeitungsläden
und Bankfilialen, Blumen- und Schuhgeschäfte, Bäckereien und
Fleischer – die Art von Geschäften, die in vielen größeren
Städten durch Supermärkte und Telefonbanking überflüssig geworden
waren. In Orten wie diesem jedoch schafften sie es, zu überleben, wie
Muscheln, die sich an den Felsen festklammern, während die Flut des
Fortschritts versucht, sie fortzuspülen.
Sie trat in den ersten Zeitungsladen, an dem sie vorbeikam,
und kaufte eins der drei Lokalblätter, die auf dem untersten Bord
lagen. Ein paar Meter weiter die Straße entlang fand sie den nächsten
Zeitungskiosk und kaufte das zweite. Drei Zeitungen in einem Laden zu
kaufen, das galt zwar vermutlich nicht als auffälliges Verhalten, doch
sie schätzte es nicht, Spuren zu hinterlassen, selbst wenn es sich
dabei nur um Erinnerungen handelte. Daisy zog es vor, unbemerkt durch
die Wahrnehmung der Leute zu schlüpfen: einfach nur eine ganz
gewöhnliche alte Dame, die ihr Leben lebte, einen Tag nach dem anderen.
Etwas weiter die Straße entlang stieß sie auf eine W.H.
Smith-Filiale. Dort kaufte sie die dritte Lokalzeitung und ließ sich
dazu eine Plastiktüte geben. Jetzt, da sie alle drei Zeitungen besaß,
musste sie sich etwas suchen, wo sie sich hinsetzen und sie lesen
konnte. Zunächst war sie drauf und dran, umzukehren und zu der kleinen
Parkanlage zurückzukehren, die sie entdeckt hatte, aber sie wusste,
dass der berauschende Duft der Poleiminze und des Rittersporns sie dort
bloß ablenken würde. Ein Café tat es auch.
Also ging sie weiter die Hauptstraße entlang, und ehe sie
recht wusste, was sie tat, betrat sie links einen Hauseingang. Erst als
ihr der Geruch von Karamell und Zuckerwatte in die Nase fuhr, blickte
sie auf und merkte, dass sie in einen Geschenkeladen geraten war. Wieso
hatte sie gedacht, das sei ein Café? Leise lächelnd machte sie kehrt,
ging weiter und hielt jetzt sorgfältiger Ausschau.
Fast hätte sie das Café auf der anderen Seite der Straße
übersehen. Es war Teil eines Gebäudes, das sich von einer Straßenecke
bis zur nächsten erstreckte, aus rotem Backstein gebaut, mit
Sandsteinornamenten an den Ecken. Das Gebäude war einmal ein großes
Postamt gewesen, war es zur Hälfte auch immer noch, die andere Hälfte
jedoch hatte man in ein elegantes Café umgewandelt, das in
Kreideschrift auf einer Tafel an der roten Backsteinwand Kuchen und
Torten, Espresso und Cappuccino anpries.
Sie betrat das Café und blickte sich um. Es hatte denselben
nostalgischen Touch wie ihr Hotel – rückwärtsgewandt statt
vorwärts, mit Spitzendeckchen auf den Tischen und bräunlich verblassten
Fotos an der Wand. Ein perfekter Ort, um sich hinzusetzen und zu lesen.
Sie fand einen freien Tisch und nahm Platz. Der in Plastik
eingeschweißten Speisekarte auf dem Tisch hatte sie entnommen, dass sie
hier tatsächlich auch Tee statt Kaffee bestellen konnte. Also bat sie
die Kellnerin um ein Kännchen und breitete das erste Lokalblatt, die Lendring
Gazette, auf dem Tisch aus.
Schlagzeilen über Betrugsanklagen gegen den Stadtrat überlas
sie, ebenso die Nachforschungen über den Verkauf von Schulgrundstücken
in der Umgebung, und konzentrierte sich mehr auf die hinteren Seiten,
die Lokalnachrichten. Auch hier natürlich kleine Artikel über letzte
Neuigkeiten. Einer davon berichtete unter der Überschrift ›Milch und
Bier gestohlen‹ über Diebe, die in eine Tankstelle eingebrochen waren,
dort aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier und eine Flasche Milch
gestohlen, beides ausgetrunken und dann die Milchflasche zerschmettert
hatten. Für Daisy war das ein Beweis für die Engstirnigkeit, mit der
Lokalblättchen das Tagesgeschehen abhandelten. Die Welt konnte auf eine
ökologische Katastrophe zusteuern, Völker sich im Krieg befinden, doch
solange auch nur ein Lokalreporter seinen Dienst versah, würde keine
gestohlene Milchflasche
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