Kaltes Gift
unerwähnt bleiben. Ein anderer Artikel
beruhigte die Leser, dass ein im Sumpf stecken gebliebenes Pferd von
der Feuerwehr gerettet worden war. Erst auf Seite zweiundzwanzig stieß
sie auf die Rubrik ›Veranstaltungen‹, wo die Aktivitäten verschiedener
lokaler Organisationen aufgelistet waren, etwa des Fuchsia-Clubs, des
Bridgeclubs und – höchst interessant für sie – des
Witwen-Freundschaftskreises. Wer zu diesem Club gehörte, der kannte
natürlich zwangsläufig die anderen Mitglieder, doch Daisy wusste, dass
sie sich leicht mit einer der Witwen anfreunden, sie nach und nach von
der Herde trennen und Schritt für Schritt ihr Leben übernehmen konnte.
Die anderen Witwen fragten sich dann vielleicht von Zeit zu Zeit, was
aus ihrer Freundin geworden sei, doch vermutlich würden sie höchstens
halbherzige Versuche unternehmen, festzustellen, ob es ihr gutginge.
Und waren erst einmal ein paar Anrufe oder das Klopfen an der Tür
unbeantwortet geblieben, dann würden sie es aufgeben. Das war die
menschliche Natur.
Die nächste Seite listete die Kirchen des Städtchens und ihre
Gottesdienste auf. Daisy merkte sich die Standorte und die Art der
Aktivitäten, die sie anboten. Schließlich wollte sie ja nicht in
irgendetwas Frommes hineinstolpern. Immerhin stellte sie erfreut fest,
dass es viele Methodistenkirchen gab. Ihre spontane Geschichte im Zug
am Tag zuvor war also abgesichert.
Es folgten drei Seiten mit Todesanzeigen, und Daisy las sie
Zeile für Zeile durch. Die Worte waren sich alle ähnlich, als
entstammten sie einer kleinen Anzahl von Schablonen, und sie amüsierte
sich hämisch über die diversen Euphemismen, die immer wiederkehrten.
›Friedlich entschlafen.‹ – ›Unerwartet verstorben.‹ –
›Von uns gegangen in der Blüte des Lebens.‹ Alles lächerlich. Wie viele
dieser Anzeigen verheimlichten Tage des chaotischen, qualvollen und
unwürdigen Todeskampfes seitens der lieben Entschlafenen? Wie viele der
liebevollen Nachrufe tarnten Vernachlässigung, Misshandlung, sogar Mord?
Ihr Tee kam, wenn auch spät, und Daisy goss sich eine Tasse
ein, fügte Milch hinzu und nahm einen Schluck. Er war bitter. Das
Mädchen hatte ihn anscheinend irgendwo stehen lassen und ihn vergessen.
Wohin steuerte die Welt eigentlich? Wenn sie derartig nachlässig war,
dann sollte Daisy vielleicht eines Tages wiederkommen und in eine oder
zwei Zuckerdosen etwas hineinschmuggeln, wenn es niemand sah: ein
bisschen feines weißes Pulver, das sich unbemerkt in Tee oder Kaffee
auflöste, das aber Stunden später qualvolle Krämpfe auslöste.
Natürlich würde sie das nicht tun. Das würde zu viel
Aufmerksamkeit erregen. Aber es war hübsch, davon zu träumen.
Im hinteren Teil der Gazette gab es zehn
Seiten Immobilienanzeigen. Die ersten acht betrafen Eigentumshäuser und
-wohnungen, aber auf den beiden letzten wurden Mietobjekte angeboten.
Sie studierte sie mit derselben Sorgfalt und Erregung wie die
Todesanzeigen. Die Durchschnittsmiete schien zwischen fünfhundert und
siebenhundert Pfund im Monat zu liegen: ein Betrag, den sie zwar nicht
auf Dauer aufbringen wollte, den sie sich aber doch leisten konnte,
während sie nach einem netten Haus Ausschau hielt, in dem sie
unterschlüpfen konnte. Ein bewohntes Haus. Ein Haus, das bald ihr
gehören würde.
Schließlich kam Daisy zu den privaten Kleinanzeigen. Diese
Rubrik las sie einfach zu gern. Es war, als werfe man einen schnellen
Blick durch die Vorhänge eines fremden Lebens. Einen flüchtigen Blick
nur, im Vorübergehen, der alle möglichen Interpretationen zuließ. Was
hieß wohl: ›Familien-Stammbaum-Historiker sucht w. um gemeinsam nach
Wurzeln zu graben und eine neuen Zweig zu bilden‹? Würde ihm sein
Wunsch je erfüllt werden? Und ein ›schlanker, mittelgroßer Postbeamter,
Katzenbesitzer, sucht passende Frau‹ – verriet derjenige zu
viel von sich? Und dann: ›Fröhliche, lebhafte Dame in den Fünfzigern
sucht männliche Begleitung für Trödelmärkte, Gartencenter etc.‹? Na,
das war doch vielversprechend. Wenn die schon in der Zeitung
inserierte, dann hieß das doch, dass sie in Clubs, in der Kirche oder
auf andere Art und Weise, wie sich eine reife Frau Freunde erwirbt,
bereits gescheitert war. Oder aber es bedeutete, dass sie einsam war.
Daisy prägte sich die Chiffre unter der Anzeige ein. Sie kannte sich
mit dieser Prozedur aus, die variierte von Stadt zu Stadt kaum. Die
Nummer war wahrscheinlich die Verbindung zu einer Vermittlungsagentur
im
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