Kaltes Gift
steinernen
Kai, und das Wasser erstreckte sich von dem Kai bis weithin zum anderen
Ende, eine dunstiggraublaue Fläche, ein Spülicht aus Farbe.
Es war ein Jachthafen, ein Liegeplatz für Boote, und da lagen
Hunderte, mit weißgestrichenem Rumpf und spitz zulaufendem Bug,
geradezu furchterregend in Daisys Augen. Irgendwo in der Nähe musste es
einen Kanal oder einen Zufluss geben, der in die Nordsee mündete und
den Booten als Einfahrt diente. Jetzt lagen sie still da, lauernd,
warteten auf ihre Eigner, die sie losbinden und in die raue See
hinaussegeln würden.
Daisy ging die Treppe an der anderen Seite hinunter und trat
an den Rand des Kais – mit langsamen, zögernden Schritten, als
ob etwas sie gegen ihren Willen vorantrieb oder als ob etwas sie von
einem lang gesuchten Ziel zurückdrängte.
Als sie sich niederkauerte, sah sie ihr Spiegelbild im Wasser:
eine Gestalt, die sich vor dem blauen Himmel abzeichnete, eine Hand auf
dem Kai, die andere ausgestreckt, um das Wasser zu berühren.
Aber das war gar nicht sie.
Die Gestalt, die sie da aus dem Wasser des Jachthafens
anblickte, war ein Mädchen mit rotem Haar, zu einem Pferdeschwanz
zurückgebunden. Sie trug ein kariertes Kleid. Und irgendetwas zog sich
über die Vorderseite des Kleides: ein Fleck, wie von Marmelade oder
Fruchtsaft.
Oder Blut.
Daisy fuhr taumelnd in die Höhe und stolperte rückwärts, fort
vom Rand des Kais. Was sie da im Wasser gesehen hatte, war falsch. Ganz
und gar unwahr. Und es hatte auch alles um sie herum entstellt. Sie
hatte es vorher nicht bemerkt, aber jetzt sah Daisy, dass der Beton
stellenweise zerbröckelt war, an anderen Stellen Risse hatte, und die
verschiedenen in den Beton eingelassenen Ketten und Ringe trieften nur
so vor orangefarbenem Rost. Und die Boote selbst sahen so traurig aus.
Hinter den grausam spitzen Bugspriets waren die Rümpfe schmutzig, und
das Tauwerk hing schlaff herab.
Über und zwischen den Booten hingen die Möwen entweder
bedenklich schwankend im Wind, oder sie schaukelten auf dem Wasser in
der Hoffnung, dass ein Futterbissen vorübertrieb. Ihre Schreie
versetzten Daisy in Panik, sie machte kehrt und rannte die Steinstufen
am Hang hinauf, so schnell sie konnte.
Auf der anderen Seite hatte sie Mühe, wieder zu Atem zu
kommen. Sie raffte sich zusammen und ging die hundert Meter zur
Hauptstraße zurück. Irgendwie kam es ihr vor, als habe sie sich
zwischen zwei Welten bewegt.
Daisy hielt Ausschau nach einer Bibliothek, und ein Stück
weiter die Straße hinunter fand sie tatsächlich eine. Es war ein
einstöckiges Haus aus körnigem Sandstein. Als ihr Atem wieder normal
ging, trat sie ein.
Die Bibliothek war hell und luftig, sie bestand aus zwei
Ebenen mit einer Rampe dazwischen. Daisy brachte gute zehn Minuten
damit zu, herumzuwandern und sich mit den Beständen vertraut zu machen.
Belletristik an einem Ende, Sachbücher am anderen, mit genügend Raum in
der Mitte für die traurigerweise allgegenwärtigen Internet-Terminals
und DVDs. Bücher schienen heutzutage für Bibliotheken von zweitrangiger
Bedeutung zu sein.
Durch eine Tür, die aus der Bibliothek hinausführte, gelangte
man nicht, wie sie erwartet hatte, wieder auf die Straße, sondern in
einen Hof, eingeklemmt zwischen der Bibliothek und dem Gebäude
dahinter. Dort hatte man Rosen in Kübel gepflanzt und kunstvoll Bänke
drum herum arrangiert. Ein paar Leute saßen dort draußen und lasen in
Büchern, die sie sich von drinnen mitgebracht hatten.
Innerhalb weniger Augenblicke hatte Daisy drei Frauen über
sechzig ausgemacht, die jeweils allein dort saßen und lasen.
Mit geübter Gleichgültigkeit ging sie in die Bibliothek
zurück, wanderte an den Regalen entlang, bis sie ein Buch mit dem Titel Leyston -by- Naze – Eine persönliche Geschichte fand. Es war immer gut,
etwas über den Ort zu wissen, in dem man sich niederlassen wollte.
Daisy hatte im Laufe ihres Lebens in etlichen anonymen Städten gewohnt,
und sie freute sich richtig auf einen Ort, der wirklich eine Geschichte
hatte. Sie nahm das Buch mit nach draußen, fand eine Bank, auf der
niemand saß, und begann zu lesen. Dabei achtete sie darauf, sich so
weit ans Ende der Bank zu hocken, dass bequem noch jemand auf der
anderen Seite sitzen konnte. Wenn sie Glück hatte, konnte sie eine
Unterhaltung anfangen. Und wenn sie großes Glück hatte, dann war die
andere Person eine ältere Witwe ohne jegliche Freunde oder
gesellschaftlichen Umgang.
Die ersten zehn Minuten lang widmete
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