Kaltes Gift
Auftrag der Zeitung. Man konnte Mitteilungen mündlich eingeben oder
als Text senden. Was Daisy betraf, so war eine schriftliche Antwort
vorzuziehen: Wenn sie diese Frau aus der Anonymität locken und sich mit
ihr anfreunden wollte, dann musste sie sie identifizieren. Und das
hieß, sie musste ein Treffen an einem angemessenen Ort vereinbaren und
von ferne beobachten, wenn die Frau auftauchte und vergeblich wartete,
dass ihr vermeintlicher Verehrer auftauchte.
Vermeintlicher Verehrer. Bei den Worten musste sie lächeln.
Sie hatte nie einen Verehrer gehabt, weder vermeintlich noch sonst wie,
und sie hatte auch nicht die Absicht, sich einen zuzulegen, doch sie
kannte sich gut genug aus in der Beziehungswelt zwischen Männern und
Frauen, um eine überzeugende Antwort zu schreiben.
Die beiden übrigen Zeitungen – der Leyston
Recorder und die Walton and Leyston Post unterschieden sich alles in allem kaum von der Lendring
Gazette. Die Geschichte von dem im Schlamm stecken
gebliebenen Pferd stand in beiden, während die über die gestohlenen
Milch- und Bierflaschen nur im Recorder stand,
nicht aber in der Post. Von allen dreien, befand
Daisy, hatte die Lendring Gazette wohl am meisten
zu bieten. Die hatte ihr bereits einige Hinweise gegeben.
Sie hinterließ genügend Geld auf dem Tisch, um den Tee zu
bezahlen, allerdings nicht mehr als ein paar Pence Trinkgeld. Bedienung
von so schlechter Qualität verdiente keine Belohnung.
Daisy verließ das Café und ging weiter die Hauptstraße
entlang, sowohl um die Gegend insgesamt auszukundschaften als auch aus
einem anderen Grund. Auf der anderen Seite sah sie in der Ferne die
Bingo-Halle, wo sie gestern Abend die erste Beute gewittert hatte. Die
Geschäfte zwischen ihr und der Bingo-Halle verlagerten sich mehr und
mehr von Bedarf der Urlauber fort zum Alltäglicheren: ein Friseur, eine
Eisenwarenhandlung und so fort. An einer Ecke mit einem Blumenladen an
der einen und einem Informationskiosk an der anderen Seite blieb sie
stehen. Die Straße rechts führte weg von der Hauptstraße, weg vom
Strand und von Daisys Hotel, doch einer plötzlichen Laune folgend,
entschloss sie sich zu einem Schlenker, um zu sehen, was es da unten so
alles gab.
Die Hauptstraße verlief in einer Kurve nach rechts, und alles,
was Daisy während der ersten Minuten ihrer Wanderung sehen konnte,
waren verwitterte, einzeln stehende Häuser auf beiden Seiten. Die
Spalten zwischen den Pflastersteinen waren voller Sand, wahrscheinlich
durch Wind und Sturm vom Strand hereingeweht.
Nach ein paar hundert Metern wurden die Häuser auf der rechten
Seite von einem Erdwall abgelöst, höher als sie selbst, bedeckt von
Gras und noch mehr Sand. In Abständen führten Betonstufen den Hang
hinauf und verschwanden oben geheimnisvoll im Nirgendwo.
Weiter vorne endete die Straße abrupt an einem Gittertor. Auf
einem Schild, das daran hing, stand in großen Buchstaben ›Leyston
Jachtclub‹, und in kleinerer Schrift darunter ›Zutritt nur für
Mitglieder‹.
Daisy ging noch ein paar Schritte weiter auf das Tor zu. Sich
in einem Jachtclub auszukennen, das könnte ganz nützlich sein.
Zumindest konnte es ihr auf Anhieb gesellschaftliches Ansehen
verschaffen. Sie wusste wenig über Boote, doch das konnte sie bestimmt
lernen. Ein paar Stunden in der Gesellschaft einer Seglerin oder auch
nur ein paar Stunden im selben Raum mit einer, und sie würde so
auftreten und so reden, als hätte sie ihr ganzes Leben auf Booten
zugebracht.
Daisy wandte sich von dem Jachtclub ab und betrachtete
nachdenklich den Graswall zu ihrer Rechten. Da lag er, und das sanfte
Wiegen des windbewegten Grases an seinem Hang war wie das langsame,
tiefe Atmen eines ruhenden Ungeheuers. Irgendwo hinter dem Wall hörte
sie das Kreischen der Möwen, wie Kindergeschrei.
Das Geräusch machte sie auf unerklärliche Weise nervös: Sie
hatte nie Kinder gehabt, nie die Berührung durch die Hand eines Mannes
verspürt, doch irgendetwas an diesem Ton setzte ihr so zu, dass sie
hätte schreien können.
Die nächste Treppe war nur ein paar Meter entfernt, und mit
wachsender Nervosität stieg sie mit kleinen Trippelschritten hinauf.
Als ihr Kopf über den Wall hinausragte, war das Erste, was sie
sah, eine Reihe von Häusern, weit in der Ferne, und dann, als sie oben
angekommen war, flatterte ihr plötzlich der Atem in der Brust
angesichts der weiten, stillen Wasserfläche zwischen ihr und den
Häusern. Der Abhang auf der anderen Seite endete auf einem
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