Kaltes Gift
nach ihnen sucht, indem man ihre Identität am Leben erhält? Die
haben garantiert alle keine Angehörigen und keine engen Freunde, genau
wie Violet Chambers. Diese Frauen haben einsam gelebt, allein und
unbemerkt, bis jemand kam. Jemand, der sich mit ihnen angefreundet,
sich in ihr Leben geschlängelt, sie dann umgebracht und ihre Identität
übernommen hat.« Er schüttelte den Kopf. »So viele Identitäten, und
derjenige, der dahintersteckt, muss sie am Leben halten, weil das
Einkommen weiterhin strömt. Die Pensionen, die Renten, die
Anlagebeteiligungen. Ganz schön viel zu jonglieren.«
»Wo fangen wir an?«, fragte Emma schlicht.
Lapslie überlegte. »Der Volvo wird 'ne Pleite sein«, meinte er
schließlich. »Er hat uns zwar hierhergeführt, und womöglich finden sich
auch noch Spuren darin, die ihn mit einem der Leichname hier in
Verbindung bringen, aber er ist immer noch auf Violet Chambers
zugelassen. Ich glaube, unser Mörder hat ihn einfach adoptiert.
Kriegsbeute. Wahrscheinlich macht er das mit jedem Opfer: Reißt sich
alles unter den Nagel, was brauchbar ist, und verkauft den Rest. Wenn
es in dem Wagen keine Spur von dem Mörder selbst gibt – und
ich glaube, dazu ist er zu schlau –, dann ist das eine
Sackgasse.«
»Und das Haus?«, fragte Emma und deutete mit dem Kopf hinüber.
»Ganz ähnlich. Es gehört bestimmt einer der Toten.
Wahrscheinlich der, die schon am längsten da sitzt. Wie war doch der
Name – Rhona McIntyre? Bestimmt die am Kopf der Tafel. Die
Hypothek aufs Haus ist abbezahlt, und der Mörder sorgt bestimmt dafür,
dass die Grundsteuer jedes Jahr bezahlt wird. Untadelig.«
»Können wir die Grundsteuerzahlungen prüfen?«
Lapslie zuckte die Schultern. »Wir können, und das werden wir
auch tun, aber ich garantiere Ihnen, die wird von einem Konto gezahlt,
das einer der anderen Frauen aus der Tischrunde gehört. Ein Kreis, den
man nicht durchbrechen kann. Der Mörder benutzt jedes der Konten, um
Rechnungen der anderen zu bezahlen, und hebt Beträge ab, wenn er Geld
braucht. Selber bezahlt er niemals. Also führt auch keine Spur zu ihm.«
»Sind Sie sicher, dass das alles Frauen sind, Boss? Ein paar
von den Leichen sind so verwest, dass man das allein vom Aussehen her
schwer sagen kann.«
»Bisher hat das alles mit Frauen zu tun: Violet Chambers,
Rhona McIntyre, die Frau, die beim Verlassen von Violets Haus gesehen
wurde, die besser erhaltenen Leichen da drin.« Er seufzte. »Meinen Sie
nicht auch? Das Gift, die Präzision, die sorgfältige Planung, die
Auswahl der Opfer … ich garantiere Ihnen, der Mörder ist auch
eine Frau.«
Emma blickte sich um. »Gut. Was jetzt?«
»Jetzt lassen wir die Leute von der Spurensicherung ihre
Arbeit machen. Ich telefoniere ein bisschen herum und sorge dafür, dass
wir so viele zusätzliche Pathologen zur Aushilfe zugewiesen kriegen wie
möglich.« Er runzelte die Stirn. »Wie nennt man eigentlich so eine
Gruppe von Leichenbeschauern? ›Notfall-Pathologen‹?« Er schüttelte den
Kopf. »Egal. Jedenfalls möchte ich, dass Sie überprüfen, was es mit
diesem Haus auf sich hat. Stellen Sie fest, wann Rhona McIntyre zuletzt
gesehen worden ist, wie ihr persönlicher Hintergrund war, was mit ihr
passiert ist, und vor allem, ob irgendjemand mit ihr zusammen gesehen
wurde, bevor sie von der Bildfläche verschwunden ist. Reden Sie mit
allen, die in der Nähe wohnen. Fahren Sie ins nächste Dorf und sprechen
Sie mit den Gastwirten, Ladenbesitzern, mit sonst wem. Aber besorgen
Sie mir Hintergrundinformationen zu Rhona McIntyre.«
»Und wenn ich irgendwann nächste Woche damit fertig bin?«
»Dann können Sie 'ne Pause machen.«
Emma blickte sich um. »Ich hab aber keinen Wagen.«
»Lassen Sie sich von einem von den Streifenpolizisten
rumfahren. Dann haben die das Gefühl, nützlich zu sein, und wer weiß?
Vielleicht wissen die was über das Haus oder die Eigentümerin.«
»Zufällig«, sagte sie, »habe ich einen Freund hier in der
Gegend. Den werd ich mal anrufen.«
Emma ging davon und zog ihr Handy aus der Tasche, und Lapslie
blieb eine Weile stehen und blickte sich um. Das Haus lag in einem Tal.
An beiden Seiten stieg das Gelände nach und nach an, dunkel und
imposant, und verlieh dem Anwesen etwas Klaustrophobisches. Hinter ihm
war der Fahrweg, auf dem er hergekommen war, und vor ihm lag …
der Garten.
Er ging hinüber zu dem Eingang im Zaun. Der Zaun war gut
instand gehalten, verglichen mit dem Rest des Anwesens, und
Weitere Kostenlose Bücher