Kaltes Gift
das geringste Anzeichen.
Annie ging zu ihrem Wagen zurück, saß still auf dem Fahrersitz
und ließ die Welt an sich vorüberziehen. Immer wieder blickte sie zu
dem kleinen flachen Hügel hinüber, wo Violet lag, überlegte halb, ob
sie sehen würde, wie die Erde sich bewegte oder sich eine Hand aus dem
Schlamm schob wie eine fette rosa Spinne, aber nichts geschah. Rein gar
nichts.
Nach einer Weile schaltete sie die Warnblinkanlage ein. Das
Klicken kam ihr unglaublich laut vor, nachdem sie so lange in der
Stille gesessen hatte. Doch vielleicht würde jetzt jemand ihretwegen
anhalten.
Sie grub in ihrer Handtasche herum und holte ein Handy heraus.
Sie hatte es vor ein paar Jahren in einer Filiale von W.H. Smith in
Brent Cross gekauft, nachdem sie sich vorsorglich von dem Verkäufer
hatte bestätigen lassen, dass es auf Vorauszahlungsbasis funktionierte
und dass sie es in den meisten Supermärkten oder Tankstellen aufladen
konnte. Sie hatte vergessen, welche ihrer vielen Identitäten es
angeschafft hatte, aber soviel sie wusste, gab es keine Möglichkeit,
ihr dadurch auf die Spur zu kommen. Und sie benutzte es nur selten.
Sie wählte die Nummer der Auskunft.
»Guten Morgen«, sagte Annie – Violet –
vornehm. »Ich brauche eine Autowerkstatt irgendwo in der Nähe des
Thetford Forest. Ich habe eine Panne, wissen Sie.«
»Ich habe hier drei Werkstätten in der Nähe«, sagte die Stimme
am anderen Ende der Leitung. »Ich könnte Sie aber auch mit dem
Automobilklub verbinden.«
»Könnten Sie mich mit der ersten Werkstatt verbinden, die Sie
haben?«, sagte Violet.
Innerhalb einer Minute hatte sie mit einem Mechaniker
gesprochen, ihm erklärt, wo sie sich befand, was passiert war, und
hatte verabredet, dass er käme und ihren Wagen wieder flottmachte.
Eine halbe Stunde später tauchte der Mechaniker mit einem
großen Laster auf. Er war ein ziemlich gewöhnlicher Mensch, einer von
der Sorte, mit der Violet nach Möglichkeit jeglichen Umgang vermieden
hätte, und ein ununterbrochener Redestrom begleitete denn auch seine
Arbeit, als er ihren Reifen wechselte. Als er den Schmutz an ihren
Händen bemerkte, fragte er scherzend, was sie denn gemacht hätte. »Ich
bin hingefallen«, sagte sie spitz.
Sie zahlte per Scheck – wobei sie selbstverständlich
das Scheckbuch und die Scheckkarte benutzte, die sie in der Handtasche
gefunden hatte, und unterschrieb mit Violet Chambers' ziemlich blumiger
Signatur. Er wartete, bis sie in den Wagen gestiegen und losgefahren
war, nur um zu überprüfen, ob der Reifen auch fest saß, und sie musste
sich entscheiden, entweder in ihrer ursprünglichen Richtung
weiterzufahren – zu ihrem Lieblingsrefugium, wo all ihre
Freundinnen auf sie warteten –, oder die weite Heimfahrt
anzutreten. Sie wollte schließlich nicht die Leiche
exhumieren – die namenlose Leiche, als die sie sie in Gedanken
schon betrachtete –, während der Mechaniker zuschaute, aber
sie wollte auch nicht wegfahren, wieder umkehren und zurückkommen, um
das alles dann zu erledigen. Und ohne die Leiche gab es herzlich wenig
Grund, zu ihrem Refugium zu fahren. Zögernd beschloss sie,
heimzufahren. Sie konnte ja ein andermal wegen der Leiche wiederkommen.
Die Fahrt dauerte mehrere Stunden, und obwohl der Reifen
perfekt hielt, war sie erschöpft, als sie endlich wieder in dem Haus
war. In Violets Haus. Ihr Haus. Sie machte sich
ein bisschen Toast, aß ihn ohne Butter oder Margarine und ging zu Bett.
Innerhalb von Sekunden war sie eingeschlafen, und ihr letzter Gedanke
war, dass der Leichnam nun ruiniert war. Kaputt. Er würde nicht zu den
anderen bei der Teegesellschaft passen. Sie würde ihn einfach dort
lassen, wo er war.
Und während die Nacht voranschritt und die Schatten über die
Zimmerdecke krochen, schlief Violet.
Und Daisy wachte auf.
Strandluft wehte durchs Fenster herein: Salz, Zuckerwatte und
Moder. Der platte Reifen, das Begräbnis im Wald, die Rückfahrt zu
Violets Haus – das alles war vor fast einem Jahr geschehen.
Neun Monate lang war sie Violet gewesen, während sie Daisy Wilson
ausfindig gemacht und sich mit ihr angefreundet hatte. Jetzt war sie Daisy Wilson. Und bald würde sie Eunice Coleman sein.
Und um den Teetisch saßen mehr Gäste denn je.
14
N ach vier Stunden im Haus des Todes, wie er
es inzwischen in Gedanken nannte, konnte Mark Lapslie nicht mehr. Er
ging hinaus; seine Beine fühlten sich windelweich an, als hätte er an
einem Geländelauf teilgenommen. Er konnte nicht einmal
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