Kaltes Gift
die
Anpflanzungen waren, soweit er sehen konnte, nirgendwo auch nur
annähernd so verwildert wie die Felder, an denen er auf dem Wege
hierher vorübergekommen war. Es sah ganz so aus, als ob derjenige, der
das Haus besuchte, nicht bloß Leichen hinterließ.
Er ging durch die Pforte, und ihm war, als sei er durch einen
unsichtbaren Vorhang getreten. Das Aroma der Gewächse überfiel ihn wie
ein starkes, benebelndes Parfüm. Ihm wurde ein wenig schwindlig, doch
er atmete es beglückt ein, tauschte den Gestank nach altem, totem
Fleisch gegen die Duftmischung aus Poleiminze, Rittersporn, Fingerhut,
Kornrade und zahllosen anderen Blumen, die er aus seiner Kindheit
kannte oder von Sonias Bemühungen, in ihrem Garten hinterm Haus
Rabatten anzulegen. Hortensien und Hyazinthen, Rhododendron und
Gänsefingerkraut – der Garten war ein wahrer Tumult aus
Gerüchen und Farben. Auch Büsche und Bäume gab es: Eibe und Pfirsich,
Liguster und Eukalyptus. Kleine blaue Blumen hingen neben großen roten,
glockenförmige gelbe Blüten wölbten sich über flache rosafarbene. Es
war ein Chaos, und dennoch meinte Lapslie, darin fast eine Art Plan zu
erkennen. Hier gab es eine Logik, aber nicht die Sorte Logik, die er
verstehen konnte. Oder verstehen wollte.
Einen Moment lang blieb er mit geschlossenen Augen stehen,
ließ sich mehr von den Gerüchen als von den Bildern leiten.
Für ihn war das – was die Gerüche betraf –,
als stünde er inmitten einer Fabrik, mit all dem Rasseln von Maschinen,
den lauten Rufen, dem Klicken der Adressiermaschinen und was sonst
seinen Geruchssinn mit synästhetischen Signalen überfrachtete. Wenn er
den Kopf hin und her wandte, konnte er fast so etwas wie ein Muster
ausmachen. Die Pflanzen rechts von der Pforte waren mehr blumig, die
links davon würziger, erdiger, reicher im Ton. Vor ihm waren eher
medizinische Gerüche. Das war keine willkürliche Unordnung: Diese
Pflanzen waren sorgfältig ausgewählt, um eine Art Geschichte zu
erzählen.
Er öffnete die Augen wieder und blickte um sich; dann suchte
er sich einen niedrigen Strauch aus, kniete vor ihm nieder und
betrachtete ihn genau. Einige der unteren Zweige waren
zurückgeschnitten worden: Die Spuren der Gartenschere waren noch zu
sehen. Ebenso waren die Wurzeln der Pflanzen in Kompost eingebettet
worden. Ja, dieser Garten wurde gepflegt, und zwar regelmäßig.
Einer spontanen Idee folgend, ging er zwischen den Reihen
entlang. Als Dr. Catherall erwähnt hatte, dass Violet Chambers durch
Kolchizin vergiftet worden sei, gewonnen aus einer Pflanze namens
Herbstzeitlose, hatte er in dem Gartenratgeber nachgeschlagen, den
Sonia beim Auszug zurückgelassen hatte. Einem einzelnen Stängel
entsprossen lange, winklig abstehende Blätter, und im Herbst erschienen
rosafarbene, weiße oder purpurne Blüten. Alles an der Pflanze war
giftig. Und da, da waren sie auch schon, verborgen zwischen zwei Sorten
Pflanzen, die er nicht identifizieren konnte: eine ganze Reihe von
Herbstzeitlosen.
Mit plötzlich geschärftem Blick und mit einem kalten Gefühl im
Magen sah er sich um. Zwölf Leichen dort im Haus, dazu die, die man im
Wald gefunden hatte, und wenigstens eine der Toten war vergiftet
worden. War es eine zu vage Vermutung, dass sie alle vergiftet
worden waren? Und wie standen die Wettchancen, dass sie alle mit
Toxinen aus den Pflanzen dieses Gartens vergiftet worden waren?
Das Haus des Todes, und jetzt auch der Garten des Todes. Womit
zum Teufel hatte er es hier zu schaffen? Was für ein Mensch nahm es auf
sich, einen ganzen Garten voller Giftpflanzen zu kultivieren? Natürlich
musste das alles noch bewiesen werden, aber Lapslie wusste, dass er
recht hatte.
»›Das stärkste Gift in dieser Welt aus Cäsars Lorbeerkrone
fällt‹«, zitierte er leise und schüttelte den Kopf. Als er aus dem
Garten kam und zu seinem Wagen ging, sah er, dass die Transporter
vorgefahren waren, die die Toten in die Pathologie bringen sollten.
Eine der Leichen, in grüne Kunststofffolie gehüllt, wurde gerade die
Eingangsstufen des Hauses hinuntergetragen. Vermutlich war sie so
spröde, dass man bei dem Versuch, sie in einen Leichensack zu schieben,
riskiert hätte, sie durchzubrechen.
Ein roter Jaguar fuhr ab. Von seinem Standort aus erkannte
Lapslie zwar Emma Bradbury auf dem Beifahrersitz, das Gesicht des
Fahrers jedoch konnte er nicht sehen. Vielleicht war es ja derjenige,
den sie damals in ihrem Wagen gehabt hatte, als sie im Wald auf Violet
Chambers' Leiche
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