Kaltes Gift
mehr klar
denken. Diese Gesichter – diese zerfallenen, verwesten
Gesichter – würden ihn immer in Gedanken verfolgen.
Vier Wagen der örtlichen Polizei und ein Einsatzwagen der
Spurensicherung standen vor dem Bauernhaus. Er gehörte nicht zu Sean
Burrows' Team, die arbeiteten noch an dem Volvo. Trotzdem hatte Lapslie
Burrows auf dessen Handy angerufen, um ihm zu sagen, dass es nicht bloß
ein Mordfall war, in dem sie jetzt ermittelten, sondern dreizehn, und
dass der Volvo jetzt das wichtigste Beweismittel war, das sie hatten,
da er durchaus dazu benutzt worden sein konnte, die Leichen von dort,
wo sie getötet worden waren – wo auch immer das gewesen
war –, an den Ort zu verfrachten, wohin sie vom Schicksal für
den Rest ihres Daseins verdammt waren. In das Haus des Todes.
Als er jetzt an der roten Backsteinfassade des Hauses
hinaufblickte, fiel ihm eine Ähnlichkeit mit einem Totenschädel auf,
die er zuvor nicht bemerkt hatte. Die oberen Fenster waren dunkle,
leere Augenhöhlen, das Portal eine verödete Nasenhöhle, die zwei
rissigen Steinstufen darunter die Zahnreihen und der bröckelnde
Backstein selbst die Knochen, verwittert im Vorüberfließen der Jahre.
Das war natürlich reine Phantasie, doch nach vier Stunden in diesem
Haus mit den zwölf Gestalten rings um den Tisch, erstarrt in ihrer
nicht endenden Teeparty, würde ihn alles, was er künftig sah, an
Totenschädel, Skelette und trockenes, verwesendes Fleisch erinnern.
Emma Bradbury saß auf der Motorhaube seines Autos, einen
gestiefelten Fuß auf der Stoßstange. Sie rauchte eine Zigarette.
»Wenn ich das mit Ihrem Wagen machen würde«, meinte er,
»würden Sie mich fertigmachen.«
»Sorry, Boss.« Sie richtete sich auf, warf die Zigarette auf
den Boden und trat sie mit der Spitze ihres Stiefels aus. »Es ist
bloß …«
»Ja. Ich weiß.«
Der Wind war kühl auf seinem Gesicht nach der Stickigkeit im
Hause, und er atmete tief, sog ihn in seine Lunge, um den fahlen
Todesgeruch des Hauses so weit wie möglich herauszuschwemmen. Die Luft
dort drinnen war mit Partikeln geschwängert, die sich von den Leichen
gelöst hatten, während sie in langsamem Zerfall zusammensackten. Bei
dem Gedanken, dass etwas von ihnen noch in seinem Mund haftete, in
seiner Nase, seiner Lunge, dass auch sein Anzug davon überzogen war,
fühlte Lapslie sich besudelt.
»Ich brauche eine Dusche«, sprach Emma seine Gedanken aus.
»Ich fühl mich genauso, aber wir müssen hierbleiben und die
Ermittlungen überwachen. Das ganze Haus muss untersucht werden. Wir
werden Sean Burrows' Leute herbeordern müssen, damit sie das
übernehmen, wenn sie mit dem Volvo fertig sind. Und ehrlich gesagt, ich
sehe nicht, wie Jane Catherall all diese Autopsien noch vor Weihnachten
bewältigen soll. Sie wird Hilfe brauchen.«
Emma wandte sich um und blickte das Haus an. »Ich kann's immer
noch nicht glauben«, sagte sie. »Von außen sieht man ihm gar nichts an
von dem, was wir da drinnen gefunden haben. Crackschuppen oder
Bordelle, die haben meist schon äußerlich etwas an sich, das sie
verrät, wenn man weiß, wonach man sucht, aber das hier … Man
würde doch so was wie ein Geisterhaus erwarten, mit schiefen Wänden,
von Gestrüpp überwuchert – aber das hier sieht einfach nur alt
aus. Sieht aus wie das Haus von meiner Oma.«
»Stille Wasser sind tief«, meinte Lapslie und betrachtete das
Haus. Tatsächlich hatten die frische Luft und der Sonnenschein die
Ähnlichkeit mit einem Totenschädel verscheucht, die er eben gesehen
hatte. Es war wieder nur ein Haus. Nur ein gewöhnliches Bauernhaus.
»Bei denen wird es genauso sein wie bei Violet Chambers,
was?«, fragte Emma. »Wenn wir rausfinden, wer sie sind, dann werden wir
feststellen, dass sie nicht als vermisst gemeldet worden sind. Und
soweit es das Sozialamt, die Steuerbehörde oder das Gesundheitswesen
betrifft, sind sie auch gar nicht tot. Irgendwo in England laufen sie
herum, beantragen Beihilfen und beziehen Einkünfte aus allen möglichen
Immobilien. Irgendjemand da draußen gibt sich als sie aus.«
»Sie sind nur Marionetten«, stimmte Lapslie zu. »Und ihr
Mörder lässt sie tanzen. Aber ist das hier nicht ein Geniestreich? Das,
worüber die meisten Mörder stolpern, ist doch das Beseitigen der
Leiche, warum also das Risiko erhöhen, indem man seine Leichen in der
Gegend verstreut? Warum nicht alle zusammen aufbewahren, irgendwo an
einem einsamen Ort, wo nie jemand hinkommt, und dann dafür sorgen, dass
keiner
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