Kaltes Grab
Messerstich?«
»Gut möglich. Zu welchem Schluss ich gekommen bin, können Sie dann in meinem Bericht nachlesen.«
»Dann wurde der Mann also erstochen und anschließend mit dem Auto dorthin gebracht?«
»Das würde auch besser in Ihren angenommenen Zeitrahmen passen, nicht wahr?«
»Aber als er gefunden wurde, war er schon eine ganze Weile tot …«
»Ja, aber wenn er mit einem Auto dorthin gebracht wurde, lautet die Frage: Wann hat man ihn dort abgeladen? Meiner Meinung nach hätten andere Autofahrer die Leiche sehen müssen – wenn es nicht geschneit hätte. Andererseits war dort nach den Schneefällen wahrscheinlich ohnehin nicht mehr viel Verkehr.«
Fry dachte angestrengt nach. »Falls ihn jemand dort abgeladen hat, muss es schon so heftig geschneit haben, dass niemand mehr freiwillig über den Snake Pass gefahren ist. Deshalb kam auch niemand vorbei, der etwas gesehen haben könnte. Wahrscheinlich waren die Schneewarnlampen am Anfang der Straße bereits eingeschaltet, und die Autofahrer haben wieder kehrtgemacht. Wann die Warnlampen angeschaltet wurden, lässt sich leicht feststellen. Aber das Ganze muss auch passiert sein, bevor die Straße völlig unpassierbar wurde. Bei so schwerem Schneefall bleibt ein Zeitfenster von höchstens einer halben Stunde.
Und wir sollten nach einem Fahrzeug mit Allradantrieb suchen. Mit einem anderen Wagen hätte sich da niemand hinaufgewagt, der noch halbwegs bei Verstand ist. Das Risiko, mit einer Leiche im Kofferraum dort oben einzuschneien, wäre zu groß gewesen. Das hilft uns schon ein gutes Stück weiter. Vielen Dank.«
Mrs Van Doon strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und lächelte matt. »So viel kann man aus einem bisschen Blut ableiten«, sagte sie. »Zumindest darin stimme ich mit Ihrem Inspector überein: Blut macht eine Leiche tatsächlich wesentlich ergiebiger.«
Ben Cooper begleitete die Besucher die Treppe hinunter und durch den Flur zur Anzeigenaufnahme. Alison Morrissey ging schnell und sah stur geradeaus, während Frank Baine es jedoch nicht besonders eilig zu haben schien und neugierige Blicke in die Büroräume warf, an denen sie vorbeikamen. Cooper betrachtete Morrisseys schmale schwarze Aktentasche. Er hätte etwas darum gegeben, alle Akten darin an sich nehmen und sich in die Einzelheiten der Geschichte vertiefen zu dürfen, die bei ihrem Termin nicht einmal ansatzweise besprochen worden waren. Die Erklärungen des NO waren zwar einigermaßen brauchbar gewesen, aber sie verrieten nichts über die menschliche Dimension der Tragödie, um die es Alison Morrissey ganz offensichtlich in erster Linie ging.
Doch kaum ertappte er sich bei dem Gedanken, Morrissey würde ihn die Akten vielleicht lesen lassen, wenn er sie darum bat, verwarf er ihn auch schon wieder. Er hatte auch so schon mehr als genug zu tun. Nur weil ihn ein Fall interessierte, hieß das nicht automatisch, dass er sich darum kümmern musste.
Als Cooper den Besuchern die Sicherheitstür aufhielt, drehte sich Morrissey um und sah ihn an. Ihr unverblümter Blick verunsicherte ihn. Er hatte das Gefühl, dass sie direkt in ihn hineinsah, als könnte sie alles über ihn aus seinem Gesichtsausdruck und seinem Verhalten ablesen, was sonst nur sehr wenigen Menschen gelang. Verlegen straffte er die Schultern und spürte, dass er vom Hals aufwärts rot wurde.
»Und was halten Sie davon?«, fragte sie. »Würden Sie nicht auch gern wissen, was damals wirklich passiert ist?«
»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, mich zu so einem Fall zu äußern«, antwortete Cooper. »Ich tue nur, was man mir sagt.«
Sie betrachtete ihn mit einem skeptischen Lächeln. Anfangs war er sich nicht ganz sicher gewesen, aber jetzt sah er, dass sie tatsächlich hellgraue Augen hatte.
»Das ist schade«, sagte sie.
Cooper hatte das Gefühl, als wäre er gewogen und für zu leicht befunden worden. Er blickte der jungen Frau nach, die jetzt eilig durch die Anzeigenaufnahme ging und mit ihrem schicken schwarzen Kostüm und der Aktenmappe wie eine erfolgreiche Abteilungsleiterin aussah. Frank Baine blieb im Türrahmen stehen.
»Hier meine Visitenkarte«, sagte er. »Falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann.«
Geistesabwesend nahm Cooper die Karte entgegen. »Danke.«
Dann beugte sich Baine vor und deutete grinsend mit dem Kinn auf die Gestalt.
»Denken Sie dran: Wenn die Leidenschaft einer Frau erst mal entfacht ist, kann sie nichts mehr aufhalten«, sagte er.
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