Kaltes Grab
überzeugende Aussagen ihrer Familie oder enger Freunde, was ihre seelische Verfassung betrifft, dürfte der Leichenbeschauer nicht auf Selbstmord erkennen. Vermutlich war diese Marie Tennent auch nicht verheiratet?«
Fry machte sich nicht einmal die Mühe, diese Frage zu beantworten. »Das Hauptproblem ist das Baby«, fuhr sie fort. »Ich befürchte, dass wir es irgendwann tot auffinden. Dann stellt sich die Frage, ob es vor oder nach dem Tod seiner Mutter gestorben ist.«
»Das ist ja grauenhaft«, seufzte Jepson.
»Von den Nachbarn hat niemand Marie als vermisst gemeldet. Sie hat keine Familie hier, aber wir haben ihre Mutter in Schottland ausfindig gemacht. Von ihr wissen wir, dass das Baby Chloe heißt. Es ist erst sechs Wochen alt.«
Das Schicksal des Babys würde überall große Betroffenheit auslösen. Wer hat die kleine Chloe gesehen?, würde am Morgen in den Zeitungen stehen. Die Öffentlichkeit war in diesem Fall ihre größte Hoffnung auf einen raschen Erfolg.
»Und es gibt wirklich keinen Ehemann dazu?«, fragte Jepson. »Keinen Verlobten? Oder wenigstens einen Lebensgefährten?«
»Bislang haben wir keinen gefunden.«
»Es muss doch jemanden geben, Fry. Ich meine, vor neun Monaten muss es irgendjemanden gegeben haben.«
Fry zuckte die Achseln. »Vielleicht war es auch nur wieder so ein Fall von ›Samstagabend machen wir in Sheffield einen drauf‹.«
»Wie bitte?«
»Das sagen manche Frauen bei der Child Support Agency, wenn sie nach dem Vater gefragt werden. Sie sagen, dass sie es nicht wissen, sondern sie hätten nur in Sheffield einen draufgemacht.«
»Gütiger Himmel! Ein Samstagabend in Sheffield? Zu meiner Zeit bedeutete das höchstens, dass man am nächsten Morgen mit einem Brummschädel aufwachte. Schlimmstenfalls mit ein bisschen Erbrochenem auf den Schuhen.«
»Bei allem Respekt, Sir, aber Sie waren ein Mann.«
Jepson lächelte müde. »Allerdings. Das war ich. Offenbar haben Sie meinen amtsärztlichen Bericht gelesen. Aber gibt es heutzutage keine ›Pille danach‹ oder so was?«
Fry lachte. »Die gibt es durchaus. Aber es gibt auch schon seit Jahrzehnten Kondome und alle möglichen anderen Verhütungsmethoden. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass die Männer auch ein wenig Verantwortung an den Tag legen könnten …«
»Schon gut, schon gut. Lagen im Sozialamt keine Vermerke über potenzielle Probleme mit dieser Frau vor?«
»Nein.«
»Und mit uns hatte sie auch noch nie zu tun? Haben keine Nachbarn angerufen, die sich wegen der Fürsorge Gedanken gemacht haben? Keine anonymen Hinweise über Babys, die plötzlich verschwunden sind? Bitte sagen Sie mir, dass es keine Anzeigen gab, denen wir hätten nachgehen sollen.«
»Das habe ich noch nicht überprüft, Sir.«
»Dann tun Sie das lieber gleich, Fry, bevor auch noch jemand damit zur Presse geht. Zwei Leichen reichen vollkommen. Mehr können wir jetzt nicht gebrauchen.«
»Apropos«, sagte Hitchens. »Der Patient im Krankenwagen ist gestorben.«
Der Chief Superintendent wurde einen Moment lang so starr und bleich, dass Diane Fry schon erwog, ihm eine Herzmassage zu geben. Dann rührte Jepson sich wieder. Bereits seine ersten Worte verrieten, dass er beschlossen hatte, den Krankenwagen zu ignorieren.
»Gott sei Dank sind wir wenigstens diese Kanadierin los. Die hätte uns gerade noch gefehlt.«
»Aber noch mal zu Marie Tennent«, sagte Fry. »Wir müssen herausfinden, bei wem sie das Baby gelassen hat. Und woher wollen wir mit Sicherheit wissen, dass sie es überhaupt bei jemandem gelassen hat?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Hitchens.
»Und wo ist der verflixte Vater?«, sagte Jepson.
»Vielleicht kann uns Maries Mutter ein paar Hinweise geben«, sagte Fry. »Sie kommt morgen früh nach Edendale.«
»Sieht ganz so aus, als hätten Sie einen neuen Fall, Diane«, meinte Hitchens.
»Vielen Dank. Ich hatte schon gehofft, dass Sie das sagen würden.«
»Setzen Sie die verfügbaren Leute dort ein, wo sie am meisten gebraucht werden«, sagte Jepson, als wiederholte er ein Mantra.
»Was soll das genau heißen?«, fragte Fry und sah den Inspector an.
»Das heißt, Sie bekommen eine halbe Politesse«, antwortete Hitchens.
Jepson versuchte tief durch die Nase zu atmen und seine Lungen so lange mit Sauerstoff zu füllen, bis sich sein Kopf angenehm leicht anfühlte.
»Und jetzt dürfen Sie mir die Sache mit dem Krankenwagen erzählen«, sagte er.
Auf dem Bildschirm erschien eine Straßenszene. Ben Cooper
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