Kaltes Herz
saßen. Die Zimmer waren einander so gleich, dass Charlie kurz das irritierende Gefühl hatte, über eine geheime Schwelle von einer möglichen Wirklichkeit in eine andere zu wechseln. In der einen Welt existierten die drei Menschen, die sich um ihn sorgten, in der anderen nicht. Er entschied sich für die Welt, in der Frau Liese, Altheim und Willem auf ihn warteten.
«Da sind Sie ja endlich!», sagte Altheim vergnügt, stand auf und schüttelte Charlie die Hand. «Gehen wir?»
Willem grinste wieder einmal über das ganze Gesicht, und Frau Liese tupfte sich mit dem Zipfel ihres Ärmels eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Gehen?», fragte Charlie.
«Ja, sicher.»
Eben hatte Charlie sich noch mit der Frage beschäftigt, wie er Hetti ein Leben bieten konnte und ob das alles nicht eine völlig unmögliche, hirnverbrannte Illusion war, und nun … Aber Altheim hatte es doch angekündigt. Freiheit. Bald. Das war in der Tat bald.
«Wie haben Sie das nur geschafft?»
Altheim lachte, wahrscheinlich machte Charlie ein selten dummes Gesicht.
«Mein lieber Mister Jackson, ich habe mich, ebenso wie die Polizei, beim Auswärtigen Amt erkundigt. Ihnen wird nichts zur Last gelegt. Ihr Vater hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Gesucht hat man Sie allerdings tatsächlich. Wegen der Beerdigung.»
Charlie nickte und wartete, dass ihm die schwersten Steine vom Herzen fielen, die er in seinem Leben bisher mit sich herumgetragen hatte. Dass die Information in ihn eindrang. Dass er begriff: Wäre ich nicht so Hals über Kopf davongelaufen, dann hätte ich den Brief vielleicht gefunden, dann hätte ich … aber er begriff es noch nicht.
«Aber der Diebstahl und der Einbruch?»
Frau Liese und Altheim schoben Charlie an den Ellenbogen Richtung Ausgang, so als sei dieser der Greis und nicht Altheim.
«Nun kommen Sie doch erst einmal hier heraus», sagte Frau Liese. «Es ist ja nicht so, dass es besonders gemütlich wäre. Und dann können wir das alles bei einem anständigen Nachmittagsimbiss bei Professor Altheim zu Hause klären, nicht wahr?»
«Selbstverständlich», sagte Altheim.
Willem sagte nach wie vor nichts und grinste immer nur übers ganze Gesicht.
Als sie auf die Straße traten, kam es Charlie vor, als wäre er wochenlang eingesperrt gewesen. Erst jetzt begriff er, dass er nicht nur frei war, nach Hetti zu suchen. Es war viel mehr als das: Er war frei.
Altheim schenkte Charlie eine Tasse von seinem buchstäblich schwarzen Tee ein, und er hob schnell die Hand, um anzuzeigen, dass es genug war. Willem hatten sie losgeschickt, um frische Schrippen, Schinken und Pfannkuchen mit Kirschmarmelade zu besorgen, und nun warteten sie darauf, dass der Junge zurückkam, während Frau Liese sich in Professor Altheims unaufgeräumter Küche zu schaffen machte. Charlie hörte sie von ferne vor sich hin schimpfen: wegen des dreckigen Geschirrs, den gesprungenen Tellern und all den anderen Unzulänglichkeiten eines Junggesellenhaushalts.
«Und erzählen Sie mir jetzt, wie Sie mich aus dem Gefängnis befreit haben?»
Altheim setzte sich mit einem zufriedenen Seufzen in einen ledernen Ohrensessel und nippte an seinem Tee. Offensichtlich genoss er es, Charlie warten zu lassen.
«Wieso haben Sie mir überhaupt diese verschlüsselten Botschaften geschickt, wenn Sie mich so kurz darauf schon abholen kommen? War das nicht ein viel zu großes Risiko?»
Altheim hob die Brauen. «Sicher war das ein Risiko. Aber ich wusste ja selbst nicht, ob und wie schnell wir Sie herausholen können. Ich wollte nicht, dass Sie zu viel grübeln.»
Jetzt war es Charlie, der lachte. «Sie haben mich mit Ihren Noten schon ganz schön zum Grübeln gebracht.»
«Aber Sie haben es herausgefunden?»
Charlie nickte.
«Meinen Glückwunsch», sagte Altheim.
«Sie schrieben unter anderem
Bald Freiheit
.»
«Reiner Optimismus.»
«Aber gerechtfertigt. Bitte, spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.»
Altheim stellte seine Tasse auf einen Notenstapel. «Nun schön. Es gibt gar nicht so viel zu erzählen. Den Braumeister habe ich ausgezahlt und noch eine großzügige Entschädigung draufgelegt, damit er die Anzeige zurückzieht.» Altheim lächelte. «Ein verständiger Mann, wenn es um Zahlen geht. Er macht eine Menge Geld mit seinem Bier.»
Charlie war nicht wohl bei dem Gedanken, dass Altheim Geld für ihn ausgab. Er hatte keine Möglichkeit, es zurückzuzahlen.
«Und Frau Keller … nun, die habe ich ebenfalls überzeugen können, alles für
Weitere Kostenlose Bücher